Wolfgang Hartmann

 

Gedanken gegen den Strom


Über Bürger der Alt-BRD im Dienste der Auslandsaufklärung der DDR

Unbestritten“, so heißt es, sei die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Spione für die DDR, die in der alten Bundesrepublik beheimatet waren. Nicht so unbestritten sind die strafrechtliche Verantwortlichkeit und - nach der Vereinigung - die Strafbarkeit der nachrichtendienstlich für die DDR tätig gewesenen DDR-Bürger. Die Urteile gegen den früheren BND-Mitarbeiter Spuhler und dessen Bruder, sowie gegen die in dieser Sache angeklagten ehemaligen Mitarbeiter der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) der DDR verdeutlichen die unterschiedliche rechtliche Bewertung.

Die rechtliche Beurteilung der DDR-Bürger kann nicht davon absehen, daß sie als Bürger und Staatsangestellte eines Staates tätig gewesen waren, der in seiner Staatseigenschaft mit den Attributen der Selbständigkeit und Souveränität auch von der Bundesrepublik Deutschland als gleichberechtigt anerkannt war und dem sie mindest Loyalität schuldeten. Seit dem Grundlagenvertrag übrigens auch unter dieser speziellen Voraussetzung! [1]. Diese Besonderheit ist einer der Kernpunkte der fachjuristischen Debatte. Unabhängig von den daraus folgenden rechtsstaatlichen Konsequenzen konnte diese Besonderheit ein weise gewählter politischer Ansatz sein, Konfliktpotentiale aus der Welt zu bringen oder zu neutralisieren. Zweifellos war oder ist diese Besonderheit ein Element in der politischen Interessenabwägung der Bundesregierung für ein Straffreiheitsgesetz.[2]  Für die in der alten Bundesrepublik beheimateten Agenten - z.B. der HVA - stellt sich die rechtliche Lage anders dar. „Unbestritten“, wie es heißt. Aber auch politisch und moralisch unbestreitbar? Und juristisch? Wirklich so und nicht anders denkbar?

Was hatte BRD-Bürger veranlaßt, für DDR-Nachrichtendienste zu arbeiten? Das Schicksal dieses Personenkreises nach der Vereinigung befindet sich im Hintergrund der Diskussion. Es wird nur unter dem Aspekt möglicherweise anhaltender Gefahren oder als Problem eher beiläufig juristisch erwähnt. Wenn die Geschichte der Teilung Deutschlands tatsächlich aufgearbeitet werden und nicht in unseriösen Schlagzeilen der Boulevard-Presse verkommen oder beliebigen Emotionen überlassen bleiben soll, kann dieses Problem nicht mit selbstgerechter Asymmetrie behandelt werden. Denn das individuelle  Handeln der betroffenen Menschen war auch ein Problem der politischen Positionen zweier deutscher Staaten: Durch Vieles waren die beiden Deutschlands getrennt. Sie verstanden sich selbst als Alternativen. Und doch waren sie, wie wohl kaum zwei andere Staaten, im Spannungsfeld von historischer Herkunft, Feindschaft und gleichzeitiger Kooperation, in gegenseitiger Aktion und Reaktion „vereint“.

Der wieder auf Eis liegende Entwurf für ein Straffreiheitsgesetz sieht zwar vor[3], daß auch Menschen dieses Personenkreises Straffreiheit gewährt werden könnte, wenn sie sich selbst den Behörden stellen. Dieses Motiv entspringt freilich nicht einer Reflexion über die Vereinigung als eines Ereignisses wirklich großer historischer Dimension. Es ist allenfalls mit der Sorge verknüpft, aus diesem Personenkreis könnte künftig noch eine Bedrohung für das mit der Vereinigung entstandene Deutschland möglich sein: Es sei zu vermuten, „möglicherweise“ habe die DDR solche Agenten an Dienste dritter Staaten „übergeben“. Oder betroffene Personen könnten „erpressbar“ sein. Gewiß würde jede Regierung in einem vergleichbaren Fall solche Fragen prüfen. Doch gegenwärtig findet - wenigstens in der sonst bemühten Öffentlichkeit - kaum eine seriöse Erörterung statt. Vielmehr wird suggestiv die Erwartung geschürt, diese Gefahr drohe allgegenwärtig und akut. Angesichts der in Europa entstandenen Lage läßt sich das nur als Instrumentalisierung dieses gewiß schwierigen und emotionsbelasteten Themas für politische Affekte und Effekte auf ganz anderen Feldern verstehen: denn der Realprozess der deutschen Vereinigung verläuft in krisenanfälligen Bahnen.

Eigentlich konnte erwartet werden, ein solches Jahrhundertereignis, wie die deutsche Einheit, werde bei den sie gestalten wollenden politischen Kräften so etwas wie historische Generosität hervorbringen. Sollte nicht angesichts der geschichtlichen Wurzeln des Gegeneinanders der beiden Deutschlands und des beendeten Ost-West-Gegensatzes durch eine politische Geste einem Geist der Aussöhnung Raum geschaffen werden?  Statt dessen Kleinkariertheit im Abrechnen bisheriger Feindseligkeit der beiden Deutschlands. Assoziationen an früher geübte Ritterlichkeit gegenüber einem niedergeworfenen Gegner? Vergessen sogar, nachdem nun „Einseitigkeit“ hergestellt ist, die frühere humanitäre Praxis der wechselseitigen Begnadigung und des Austausches der Agenten, die schon zum Gewohnheitsrecht und zur zuverlässigen Erwartung Betroffener gewordenen war? Möge man den „realen Sozialismus“  oder die „Partei- und Staatsführung“ der DDR beurteilen, wie man wolle: Darf ignoriert werden, daß die Teilung Deutschlands mitsamt ihrer Zweistaatlichkeit die Folge eines von Deutschland begonnenen und verlorenen Aggressionskrieges und die Folge auch jener singulären Verbrechen war, für die Auschwitz oder Buchenwald beispielhafte Namen sind? Nicht ignoriert werden dürfte doch auch, daß auf beiden deutschen Seiten Anlässe und Gegenanlässe bewirkten, alten Argwohn, alte Feindschaften, alten „Kampf“ (leider auch alte, oft bornierte Engstirnigkeiten) am Leben zu erhalten. Diese Anlässe und Gegenanlässe (wie auch die Borniertheiten) waren durchaus nicht säuberlich je dem einen oder anderen Staat, der einen oder anderen Gesellschaft, je den Bürgern allein des einen oder des anderen Staates zuzuordnen. Aus dieser geschichtlichen Realität bildeten sich subjektive Überzeugungen und Motive, bewußt und überzeugt eine Mitwirkung in Nachrichtendiensten als legitim anzusehen. An dieser Stelle ist nicht von Werturteilen über politische Konzepte die Rede: Dies ist ein Plädoyer gegen Selbstgerechtigkeit und gegen Asymmetrie. Redlicherweise muß der untergegangenen DDR auch das zugebilligt werden, wofür der frühere Staatsminister und Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Stavenhagen, diese Worte  fand: „Zu wissen, was ein anderer Staat kann und macht oder machen will, ist das legitime Interesse eines auf seine Sicherheit und die Erhaltung des Friedens bedachten Staates. Die Nachrichtendienste eines Staates sind Ausdruck seiner Souveräni­tät..“[4]

Politische Motive

Die von Stavenhagen angesprochenen Legitimations-Muster stützen sich auf die klassischen nationalstaatlichen Interessen. Mindestens seit dem  deutschen Faschismus, später dann unter den Bedingungen der - auf beiden (!) Seiten so empfundenen - friedensbedrohlichen Ost-West-Konfron­tation, traten weitere spezifische politische Motive hinzu. Sie sind nicht in das überkommene Muster „nationaler“ Motive einfügbar, die allerdings oft genug nur nationalistische waren[5]. Auf ihre Weise, um es vorwegzunehmen, haben auch nicht wenige Bürger der Alt-BRD nicht anders gedacht, wie - beispielhaft - prominente Franzosen (de Gaulle, Mauriac), Italiener (Andreotti), Polen (Glemp), die ihre historisch begründeten Sorgen vor einer möglicherweise nicht einzubindenden zentral-europäischen deutschen Macht auch öffentlich artikulierten. Deshalb erschien manchem von ihnen es subjektiv ein durchaus patriotisch verstandener Grund, mit dem Nachrichtendienst der DDR zu kooperieren. Die Spannweite der Gründe ist sehr weit: Dazu bedurfte es keinesfalls einer vollen oder kritiklosen Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Ordnung in der DDR, oder mit deren Innenpolitik oder mit dem Selbstbild der SED(-Führung) Nicht selten genügte eine quälende Besorgtheit über mögliche scharfe Konfliktzuspitzungen oder gar über deren militärische Lösung. Oder die Sorge, diese könnte durch gegenseitige Fehleinschätzungen begünstigt werden. In der Tat wird jeder objektive Beobachter zugeben, wie es auch bei Stavenhagen anklingt, daß Feindseligkeit Vorurteile und Fehleinschätzungen regelrecht produzieren kann. Und umgekehrt.

Die historisch korrekte und moralisch gerechte Betrachtung verlangt auch ein Erinnern an die z.T. sehr scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen der 50er und der 60er Jahre in der Bundesrepublik: Z.B. über die Wiederbewaffnung und über die Wehrpflicht, über die Notstandsgesetze, über den Nichtbeitritt zum Atomwaffensperrvertrag, über die Haltung zum Vietnamkrieg, über die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze und über die Schwierigkeiten der Regierungen, sich  mit einem vertraglich fixierten Gewaltverzicht zu binden. Nicht zuletzt waren es die restaurativen Erscheinungen und das Aufkommen einer neuen rechtsradikalen Szenerie. Darauf reagierte damals Karl Jaspers mit der sorgenvollen Frage: „Wohin steuert die Bundesrepublik?“. In Erinnerung sind die Versuche eines Griffs nach Atomwaffen und die rüde Abferti­gung der „Göttinger Achtzehn“ durch Adenauer und Strauß. In ihrer Haltung zur DDR zeigte sich  die Bundesrepublik bis zur Etablierung der neuen Ostpolitik Brandts und Scheels keineswegs als ein  harmloser Friedensengel ohne Fehl und Tadel. Die Hallstein-Doktrin ist nur ein Stichwort. Sie war auch für viele Westdeutsche ein Ärgernis gewesen. Und nicht nur wegen etwaiger Sympathien für die DDR, sondern wesentlich auch, weil die BRD mit ihren „querelles allemagnes“ sich selbst blockiert hatte. Alles vergessen? Vergessen die scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen um die „neue Ostpolitik“ der Entspannung und des Gewaltverzichts? Diese und andere Momente produzierten Motive und Bereitschaften, mit der DDR nachrichtendienstlich zu kooperieren. Im Detail mit sehr unterschiedlichen subjektiven Zielen und Erwartun­gen. Deshalb ist Minister Kinkels Anspielung auf „Druckmethoden“ der DDR-Auslandsaufklärung unrichtig und trifft nicht das Wesen der Motive. Verbirgt sich hinter seiner Sicht vielleicht ein Ausweichen vor der eigenen westdeutschen Geschichte, darunter der Geschichte des von ihm einige Zeit präsidierten BND mit dessen - auch weitgehend personell - bruchlosen (!) Herkunft aus der „Organisation Gehlen“ (bis 1945 „Fremde Heere Ost“)?[6]

Es ist eher eine Romantisierung, die vielzitierten Erfolge der HVA vereinfachend ihrer professionellen Qualität zuzuschreiben: Denn nirgend sonst im Gegeneinander von zwei Staaten gab es - ausser der bis 1945 reichenden Vorgeschichte - einen so „fruchtbaren“ internen Boden, wie den in der Geschichte bundesdeutscher Außen- und Rüstungspolitik und bestimmter Aspekte der Innenpolitik bereiteten. Das Spionagegeschehen (in beiden Deutschlands) stellt sich eben nicht einfach als bloßer „Landesverrat“ ihrer jeweiligen Bürger dar. Zugleich war es, vielleicht gar primär, eine Funktion der (sehr verschiedenen und auf beiden Seiten nicht ohne verändernde Wirkung gebliebenen) internen politischen, ja auch nur „ideologischen“ Auseinandersetzungen,  nicht nur zwischen, sondern auch in beiden deutschen Staaten und in ihren wechselseitigen Beziehungen[7].

Juristisch „unbestritten“ oder nicht:  Nicht wenige der Bürger der alten Bundesrepublik, die für Auslandsnachrichtendienste der DDR tätig geworden waren, taten dies mit politischen Motiven und in einer subjektiv ehrlichen Überzeugtheit, welche in der deutschen Vergangenheit bis 1945 und in der Kritik an weiterbestandenen Rudimenten wurzelte. Keinen geringen Einfluß auf Motivbildungen hatte die unterschiedliche Personalisierung, in der sich beide Staaten und Gesellschaften - vor allem in ihren Gründungs- und Aufbauphasen - darboten. Vergleicht man für jene Zeit die Biografien der Persönlichkeiten, die als Repräsentanten der beiden Staaten und Gesellschaften  anzusehen waren (und die sich auch selbst so verstanden), ist eben nicht hinwegzumontieren, daß sich da auch NSDAP-Mitgliedschaften und KZ-Vergangenheiten gegenüberstanden[8]. Die ideellen Motive bedürfen einer historisch ehrlichen politischen und moralischen Wertung. Sie können nicht einfach als ehrlos oder gegenstandslos abgetan werden. Die in München verurteilten Brüder Spuhler äußerten sich in ihrem Prozess über ihre Motive ähnlicher Art [9].

Ein Schwarz/Weiß- oder Ja/Nein-Schema ist unbrauchbar. Es sei denn, man will die deutsche Vorgeschichte - und das sind die Überfallkriege Nazi-Deutschlands, die Nürnberger Gesetze, Guernica und Coventry, Maidanek, Dachau, Oradour und Lidice - ebenso ausblenden, wie etwa die Legitimität jener ausländischen Sorgen, die sich verständlicherweise aus der Rückerinnerung an Erfahrungen „mit den Deutschen“ speisen. Wie bigott ist doch in der jetzt vorherrschenden Erörterung dieses Themas die „Methodologie“ der Einseitigkeit und Manipulation von Geschichte, von Handlungsbedingungen und von Darstellungen über Personen, ihre Motive und Handlungen, wenn im gleichen Atemzug - mit vollem Recht - solche „Methodologie“ als Legitimations-Manipulation der SED-Führung kritisiert wird!

„Unter fremder Flagge....“

Nun waren zweifellos nicht alle vom Spionagedienst der DDR Angeworbenen politische Überzeugungs- und mithin politische Täter, welche sich von ideellen Motiven hatten leiten lassen, die in irgendeiner Form auf die DDR bezogen gewesen wären.  Alle Nachrichtendienste der Welt rekrutierten und rekrutieren ihre Mitarbeiter auf der „anderen Seite“ auch mit spezifisch geheimdienstlichen Mitteln. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsschutzes und des BND, Hellenbroich, verwies kürzlich darauf, daß in den seinerzeit von ihm und von seinem „Gegenspieler“ Markus Wolf geleiteten Diensten ziemlich gleiche Methoden angewandt werden bzw. worden sind. Wie soll man angesichts dieser „Enthüllung“ Hellenbroichs jetzt, also nach der Vereinigung, eine moralische Wertung jener Personen vornehmen, die nicht auf der Grundlage einer gemeinsamen politischen Motiviertheit oder eines einseitig-eigenen politischen Motivs in eine nachrichtendienstliche Verstrickung mit der DDR geraten waren? Darf ich so selbstgerecht sein, einem Betroffenen ohne Nachdenklichkeit vorzuhalten, er habe sich von Methoden beeindrucken lassen, die ich selbst anwende, nur, daß es eben in seinem Fall die andere Seite gewesen ist? Besonders dann, wenn es Persönlichkeiten betrifft, die sich subjektiv gar nicht als „Quellen“ oder Berater für die HVA oder irgendwie sonst für die DDR, sondern möglicherweise für einen der Bundesrepublik befreundeten ausländi­schen Dienste oder für eine wohlangesehene bundesdeutsche Institution hielten? Und wenn dann, darauf bezogen, ideelle Interessen für ihre Motivation bestimmend oder überwiegend gewesen sind? Den Geheimdiensten ist der Begriff „unter fremder Flagge werben“ geläufig. Mit dieser Methode möchte man den Partner nicht bemerken lassen, für wen er tatsächlich arbeitet, weil er dazu niemals bereit und weil deshalb das angestrebte Aufklärungsziel anders nicht erreichbar wäre. In solchen Fällen könnte einem von DDR-Diensten Angeworbenen vielleicht, aber keinesfalls zwangsläufig, als Schuld nur fahrlässige Gutgläubigkeit vorgeworfen werden. Die persönliche Ehrbarkeit des „unter fremder Flagge“ Geworbenen kann man nicht anders bewerten, als man gemeinhin ein Tun bewertet, welches doch eher selbstverständlich schiene oder doch hingenommen würde, wäre denn die „fremde“ Flagge eine echte. Mögen sich die Betreffenden dabei auch in diesem oder jenen Grade außerhalb der Legalität oder anderer Loyalitätsbindungen verhalten haben: Darf aber nicht erfragt werden, ob dies nicht etwa ebenso marktgerecht und systemkonform war, wie die übliche Praxis im Beziehungsgeflecht etwa von Lobby oder Medieninformanten? Ohne diese Frage würde das Urteil doch sehr einäugig....

Nur „niedere Interessen des persönlichen Vorteils“?

Freilich befinden sich auf der weiten Skala von Interessen und Motiven auch solche von weniger ehrbarer Art. Allen Geheimdiensten ist das geläufig und ein Ansatzpunkt. Jedoch wäre es zu grob vereinfachend, wollte man nun alles auf diesen Teil der Skala reduzieren oder meinen, prinzipiell hätten hierbei subjektiv immer nur „niedere Interessen des persönlichen Vorteils“ gewirkt oder das Verhalten dominiert. Nicht-ideelle Motive gelten als moralisch besonders anfechtbar. Gewiß. Aber sollte nicht erwogen werden, daß Motive selten in reiner Gestalt, als ideelle (und nur damit „ehrbar“) und nicht-ideelle (und nur deshalb „niedere“) auftreten? Niemand in der Marktwirtschaft fühlt z.B. seine ideellen Handlungsantriebe (z.B. als Rechercheur einer Zeitung oder als ein Berater) herabgesetzt, weil er bei erfolgreicher Recherche oder Beratung ein Honorar erwarten kann. Gewiß gab es - wie bei allen Geheimdiensten der Welt üblich - auch den puren Nachrichtenhandel: Geld als einziges Motiv. Doch dürfte es nur einen schmalen Teil auf dem weiten Feld von Motiven ausmachen. Wegen des „weiten Feldes“: Sollte nach Hellenbroichs „Enthüllung“ über gleiche nachrichtendienstliche Methoden, bevor be- und verurteilt wird, nicht darüber nachzudenken sein, ob diese Gleichheiten den Betroffenen wenigstens als juristisch und moralisch „mildernder“ Umstand zugerechnet werden könnten - jetzt, nachdem die Konfrontati­onsgrundlage des geheimdienstlichen Gegeneinan­ders weggefallen ist? Soweit man sich auch in diesen Fällen nicht zu einer Geste historischer Generosität und Versöhnung entschließen zu können glaubt? Mit moralischem Rigorismus ließe sich das verneinen. Wäre ein solcher aber lebensklug?

Für den hier betrachteten Personenkreis spielen in der Diskussion weitere Gedanken eine Rolle: Könnte von ihm deshalb künftiger Schaden ausgehen, weil die DDR-Dienste Mitarbeiter an Dienste dritter Staaten übergeben hätten? Oder weil (mutmaßliche) Kenntnisse über nachrichtendienstliche Verstrickungen für die DDR solche Personen erpressbar machen würden? Diese Fragen lassen sich nicht einfach ohne Erörterung abtun. Bei der Vorbereitung des Einigungsvertrages zwischen den Regierungen der DDR und der BRD sind sie sicher erörtert worden. Dazu mögen sich kompetente Personen beider Seiten authentisch äußern. Mitteilungen im „Spiegel“ können dazu nicht ausreichen. Doch auch ohne authentische Aussagen läßt sich darüber reflektieren: Die umwälzenden Ereignisse in Osteuropa haben nicht nur wenig von dortigen potentiellen Interessenten übriggelassen. Sie schufen vielmehr ein solches Chaos der Leitbilder und der Institutionen, daß ein gegebenenfalls angesprochener Bürger der Bundesrepublik kaum noch ideell motivierbar sein könnte, einem Werben nachzugeben oder auch nur Vertrauen zu fassen. Aber einem eventuellen „Erpressungsversuch“? Zwar ist Erpressung ein professionell unqualifiziertes Mittel, aber Irrationales spielte oft genug eine verhängnisvolle Rolle. Dieser Gefahr vorzubeugen und im Eventualfall einen „Ausweg“ zu geben, ließe sich eine solche Fassung eines Straffreiheitsgesetzes denken, die Erfolgs-Aussichten minimiert und im akuten Falle einen Weg offen hält, einem Pressionsversuch zu entkommen. Dies, ohne zuvor selbstzerstörende Offenbarungen abzuverlangen.

„Veränderte Zusammensetzung des Bundesstaates BRD“

In die Diskussion über die DDR-beheimateten Mitarbeiter der DDR-Aufklärungsdienste hat der Ermittlungsrichter beim BGH, Detter, eine interessante Frage eingeführt. Sie berührt ein Dilemma: Es dürfe  „die veränderte Zusammensetzung des Bundesstaates BRD nicht außer Acht bleiben. Die BRD ist durch den Beitritt der DDR auf 16 Bundesländer erweitert worden. Für fünf dieser Länder haben die betroffenen Angehörigen der Geheimdienste eine erlaubte, vom damaligen Staat DDR sogar verlangte Tätigkeit ausgeübt. Daran hat die Wiedervereinigung nichts geändert. Strafrechtlich relevantes Verhalten ..... hat sich also nur gegen einen Teil (11 Länder) der jetzigen BRD gerichtet“[10] . Detter wird hier wegen des von ihm bezeichneten Aspektes der veränderten Zusammensetzung des neuen Bundesstaates BRD zitiert. Seine Schlußfolgerung bezieht er allein auf die Betroffenheit von DDR-Bürgern. Es wäre nur konsequent, seinen Gedanken über die veränderte Zusammensetzung des neuen Bundesstaates BRD auch auf die betroffenen Bürger der Alt-BRD anzuwenden und sie jenen Bürgern der früheren DDR gleichzustellen, die als vormalige Mitarbeiter westlicher Dienste in den Genuß der nun „veränderten Zusammensetzung“ des Staates kommen. Das mag zwar nicht eingeübter Rechtslehre entsprechen. Aber die Ungewöhnlichkeit des historischen Vorgangs dürfte eine solche Konsequenz um so mehr rechtfertigen, als jeder heutige Urteilsspruch „im Namen des Volkes“ jetzt jenen Teil einschließt, der immerhin auf der Grundlage zwei- und mehrseitiger völkerrechtlicher Akte hinzugekommen ist. Die Fairnis sollte gerade deshalb daran denken lassen, wie vordem jede Seite das Wirken der Dienste der jeweils anderen Seite zwar bekämpft hatte, dann aber ein gefaßter Agent eher früher als später mit Austausch und sozialer Re-Integration sicher rechnen durfte. Dieser in der Konfrontation beschrittene Weg ist entfallen. Geböte das Ende der Konfrontation nicht eine Geste, die an frühere humanitäre Gegenseitigkeit erinnert? Auch wäre zu fragen, welcher Effekt mit Haftstrafen für Bürger der Alt-BRD erreicht werden soll, nachdem das gesamte Bedingungssystem gegenstandslos geworden ist, welches (in der Hauptsache) ihrem vergangenen faktischen Handeln erst Bedeutung gegeben hatte? Gilt bei derartigen (vor allem bei ideell-politisch motivierten) Taten keine Resozialisierungsabsicht und nur Rache (des Siegers)? Wie auch immer gerechte, nicht von Rache und vom „Nachkarten“ bestimmte Antworten zu den erörterten Fragen gefunden werden, bleibt noch eines aus dem Kapitel „Geheimdienstliches - zwi­schen DDR und BRD“: Vermutlich wäre naiv anzunehmen, künftig würden die Staaten auf solche Instrumente ihrer äußeren Politik verzichten.  Aber das Schicksal der DDR, die über Dienste verfügte, deren Effizienz anderen Lebensbereichen der DDR gut angestanden hätte, sollte doch sehr kritisch über Sinn und Unsinn von Geheimdiensten überhaupt und über die mit ihnen verbundenen menschlichen Schicksale nachdenken lassen. Die von Hellenbroich genannte Methodengleichheit vermittelt eine ehrliche realistische Sicht gegen pharisäerhafte Entrüstungen. Doch wer sich einer (auch selbst-)kritischen Aufarbeitung verpflichtet fühlt, sollte seinen Maßstab für die politische und moralische Bewertung von Zweck-Mittel-Relationen nicht aus dem Satz ziehen: „So machen’s alle“, sondern aus der Besinnung auf die Grenzen, die menschliche Beziehungen und Würde setzen, auch für das eigene Handeln in politischen Kämpfen.


Veröffentlicht in:  Hg. Andrea Lederer, Ursula Goldenbaum, Wolfgang Hartmann, Michael Pickard; „Spionage & Justiz nach dem Anschluß

 der DDR - Meinungen und Dokumente zu den Prozessen gegen  ehemalige Mitarbeiter der Auslandsnachrichtendienste der DDR“,

 Berlin 1992, S. 32 sowie - redaktionell bearbeitet -  in:  Unfrieden in Deutschland  5 -  Weißbuch über Unrecht im Rechts-

Staat ,  Berlin  1995, S. 311 f



[1] Vgl.: "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland vom 21.12.1992, in: Völkerrecht, Dokumente Teil 3, Berlin 1980, S. 820; sowie  Urteil des Bundesverfassungsgerichtes über die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages vom 31. Juli 1973, insbesondere Abschnitt B,V,4, in: NJW 1973, S. 1539

[2] Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zu einem "Gesetz über Straffreiheit bei Straftaten des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit" vom 2.9.1990; Bundestags­drucksache 11/7762(neu)

[3] Vgl. §3 des Gesetzentwurfes, ebenda

[4] Ansprache von Staatsminister Dr. Stavenhagen in Pullach: "Zum Auftrag des Bundesnachrichtendienstes"; in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 120 v. 7.11.1989, S. 1032

[5] Auch im Westen etablierten sich nach der Niederwerfung des deutschen Faschismus übernationale Werte und politische Handlungsmotive: Man denke an die Europa-Ideen (mit Verzichten auf nationalstaatliche Souveränitätsansprüche) und an die Europäische Gemeinschaft oder an transatlantische Bindungen und deren Legitimationsgründe. Beides nota bene mit sehr spezifischen Zügen und Absichten zur Einbindung der Deutschen!

[6] Die US-amerikanische Autorin Mary Reese schreibt in ihrer Monografie über den ersten BND-Chef Gehlen, er habe "einen Weg gefunden .., seine Kameraden zu retten ... genau dieselbe skrupellose Horde wie unter Hitler" - immerhin über 4000 Mann. Vgl.: Mary Ellen Reese: Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau des deutschen Geheimdienstes; Rowohlt-Berlin 1992, S. 171

[7] So wäre bei der Bewertung bewußter subjektiver politischer Motive für nachrichtendienstliche Arbeit zu Gunsten der DDR zu bedenken, welcher späteren Entwicklung innerhalb der alten BRD solche "motivbildenden" Fragen unterlagen. Das betrifft u.a. die Hallsteindoktrin und den Alleinvertretungsanspruch gegenüber der DDR, die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die viele Jahre abgelehnte völkerrechtsvertraglich fixierte Bindung der Bundesrepublik an Gewaltverzicht gegenüber den osteuropäischen Staaten, die Wandlung der CDU/CSU-Haltung zur KSZE und zur Ostpolitik Brandts, die Wandlungen der SPD-Positionen in der Ostpolitik oder zum "Nachrüstungsdoppelbeschluß" der NATO, die späte Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags (den Strauß ursprünglich als "Über-Versailles" gewertet hatte). Oder es wäre an die quälenden Vorgänge bis zur Entfernung schwer nazibelasteter Personen aus hohen Staatsämtern zu denken (u.a. Globke, Oberländer, Villain, Filbinger, Weihrauch).

Eine historisch interessante Frage wäre, ob, in welchem Maße und wie im einzelnen politisch-inhaltlich bedingt, sich die Zäsuren in der Entwicklung des "Realsozialismus" auf Erfolg und Nichterfolg von "Überzeugungswerbungen" in der BRD auswirkten {etwa die Folgen der Unterdrückung von Reformen in der damaligen CSSR, Afghanistan, die "Fälle" Biermann und Havemann, die Zurückweisung "euro-kommunistischer" Reformansätze u.a.m.}. Dafür sind faktisch nur noch Zeit-Zeugen der HVA auskunftsfähig. Aber das gegenwärtige Klima kann nicht deren Bereitschaft stimulieren, der geschichtlichen Darstellung und Analyse zu helfen, besonders angesichts evtl. strafrechtlicher Folgen für Dritte.

Ähnlich wären die Auswirkungen der Bemühungen Gorbatschows einerseits um Reformen des Sozialismus, andererseits auch um die Etablierung eines international "Neuen Denkens" zu studieren.

Den vermuteten Veränderungen im Erfolgspotential der DDR-Dienste dürften analog umgekehrt die BRD-Dienste in der DDR einen fruchtbareren Boden gefunden haben. Das gilt entsprechend für die Auswirkungen der politischen Entwicklung in der BRD, etwa seit der Etablierung der neuen Ostpolitik Brandts/Scheels/Bahrs, seit der KSZE und, nicht zuletzt, im Gefolge der Auswirkungen der 68er-Bewegung in der BRD.

[8] Vgl. für das Geheimdienstpersonal: Insiderkomitee zur Aufarbeitung der Geschichte des MfS e.V. Berlin, Herausgeber: Übersicht für den Vergleich des Führungspersonals der Geheimdienste der DDR und der BRD - nur Gründergeneration; in: Duell im Dunkeln - Spionage und Gegenspionage im geteilten Deutschland; Berlin 1994, S. 26 f.

[9] Vgl. "Spionage & Justiz", S. 36f

[10] vgl. Beschluß des BGH v. 30.1.1991, Strafbarkeit der DDR-Spione,; in: NJW 1991, S. 929