Auszüge aus der Gedenkrede für Paul Kienberg, gehalten von Wolfgang Schmidt

…Wir haben uns heute und hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Generalleutnant Paul Kienberg, der am 5. Oktober plötzlich und unerwartet, zehn Tage vor seinem 87. Geburtstag infolge eines Herzversagens von uns gegangen ist…

Paul Kienberg wurde am 15. Oktober 1926 in Mühlberg an der Elbe geboren. Er entstammt einer Arbeiterfamilie. Nach dem Besuch der Volksschule nahm er von 1941 bis 1944 eine Lehre als Schlosser auf. Der Abschluss dieser Lehre wurde ihm wegen der jüdischen Abstammung seines Vaters verwehrt. Stattdessen wurde er in einem Arbeitslager interniert.

Der Vater war schon zuvor in das berüchtigte Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt worden. Wie Paul Kienberg erlebte er den 8. Mai 1945  im wahrsten Sinne des Wortes als Tag der Befreiung vom faschistischen Joch. Er überlebte aber nur wenige Monate und verstarb infolge der verbrecherischen medizinischen Experimente, die gewissenlose SS-Ärzte an ihm und anderen Mithäftlingen angestellt hatten.

Folgerichtig gehörte Paul Kienberg zu den Ersten, die sich 1945 für den Aufbau einer neuen Ordnung im Osten Deutschlands engagiert haben, in der die Wurzeln von Krieg und Faschismus ausgerottet wurden und die allen Menschen ein Leben ohne Existenzängste in sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Freiheit von kapitalistischer Ausbeutung garantierte.

Paul Kienberg schloss sich 1945 der KPD an und wurde nach der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in der damaligen sowjetischen Besatzungszone Mitglied der SED.

Er fand Arbeit in einem städtischen Elektrowerk und wurde dessen technischer Leiter. Als junger Genosse folgte er 1949 dem Ruf seiner Partei zum Schutz der Arbeiter- und Bauernmacht und trat in die Reihen der Deutschen Volkspolizei ein. 1950 gehörte er zu den ersten Mitarbeitern des am 8. Februar gegründeten Ministeriums für Staatssicherheit. Als Verfolgter des Nazi-Regimes reihte er sich würdig in dessen Gründergeneration ein, die geprägt wurde von Menschen, die im spanischen Bürgerkrieg, als Partisanen,  als Beauftragte des Nationalkomitees Freies Deutschland an den Fronten des zweiten Weltkrieges oder in der Illegalität aktiv gegen den Faschismus gekämpft hatten und dafür auch aufrecht und ungebrochen durch die Hölle faschistischer Konzentrationslager und Gefängnisse gegangen sind.

Was für ein Unterschied zur Gründergeneration der westdeutschen Geheimdienste! Diese rekrutierten ihr Personal zu großen Teilen aus ehemaligen Angehörigen der SS, der Gestapo und anderer faschistischer Geheimdienste.

Im Ministerium für Staatssicherheit übernahm Paul Kienberg sehr schnell anspruchsvolle Aufgaben und in Führungsfunktionen eine hohe Verantwortung. Nach Absolvierung eines Fernstudiums erwarb er 1968 den akademischen Grad eines Diplom-Juristen. Von 1964 bis 1989 leitete er die Hauptabteilung XX und war damit einer der dienstältesten Hauptabteilungsleiter des MfS.

Zu seinem Arbeitsgegenstand gehörte vor allem die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit im Staatsapparat, in den Bereichen Kultur und Massenmedien, auf den Gebieten der Jugend- und Bildungspolitik oder im Kampf gegen den politischen Missbrauch der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Seine Arbeits-Bereiche waren auf das Engste mit der Politik der DDR und ihrer führenden Partei verbunden.

Für sein Wirken in der DDR wurde Paul Kienberg hoch geehrt, so mit dem Vaterländischen Verdienstorden und dem Scharnhorst-Orden, der höchsten militärischen Auszeichnung, die die DDR zu vergeben hatte.

 Als Vorgesetzter von zuletzt etwa 450 Mitarbeitern überzeugte er durch seine ruhige und bedachte Art. Niemand hat ihn aufbrausend oder unsachlich erlebt. Auch in Stresssituationen – und davon gab es nicht wenige – blieb er überlegt und unaufgeregt.

Wer in einer Position wie Paul Kienberg tätig war, war immer im Dienst. Neben der täglichen Arbeitszeit von mindestens 14 Stunden war die eng bemessene Freizeit durch Dienstreisen und eine Vielzahl von Einsätzen zusätzlich begrenzt. Auch nachts und an Sonn- und Feiertagen klingelte das Telefon und wurden von ihm Entscheidungen abverlangt. Als z.B. 1963 das Passierscheinabkommen mit Westberlin ausgehandelt wurde, war nur das MfS in der Lage, kurzfristig die Antragstellung in Westberlin sowie die Einreise Hunderttausender zu organisieren und einen störungsfreien Verlauf zu sichern. Paul Kienberg war hieran maßgeblich beteiligt und opferte dafür und aus anderen Anlässen viele Jahre lang die Feiertage zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Das alles war auch für die engsten Angehörigen, besonders für die Ehefrau und die Tochter eine schwere Belastung. Ohne ihr Verständnis, ohne die nahezu vollständige Übernahme der häuslichen Pflichten, ohne ein solches verlässliches Hinterland hätte Paul Kienberg seine Funktion nicht ausfüllen können.

Das Scheitern der DDR war für Paul Kienberg eine schmerzliche und folgenreiche Niederlage. Gescheitert ist nicht nur die DDR, sondern ein Sozialismusmodell sowjetischen Typs, das in seiner zunehmenden Erstarrung nicht in der Lage war, auf die Herausforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution oder die in den 70er Jahren eingeleitete Politik der Entspannung mit den notwendigen wirtschaftlichen und politischen Reformen zu reagieren.

Für Paul Kienberg und seine Familie begann eine schwere Zeit. Seine Rentenansprüche wurden willkürlich gekürzt. Sensationslüsterne Journalisten belagerten wochenlang das Wohnhaus. Gleich mehrere Ermittlungsverfahren wurden gegen ihn eingeleitet. Die Anschuldigungen erwiesen sich allesamt als haltlos. Weder ihm noch irgendeinen seiner Mitarbeiter konnten strafbare Handlungen nachgewiesen werden.

Die eindeutigen Ergebnisse jahrelanger und intensiver staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen hindern interessierte Kreise jedoch nicht daran, der Hauptabteilung XX irgendwelche Verbrechen anzudichten und diese Lügen immer wieder aufs Neue zu verbreiten.

Die Nachfolgepartei der SED, die PDS, ging nach 1989/1990 auf Distanz zu Paul Kienberg und seinen Genossen. Den Treuesten der Treuen blieb nur noch die Rolle des Sündenbockes für alle Fehler und Versäumnisse der DDR.

Paul Kienberg fand seine neue politische Heimat in der Gesellschaft für rechtliche und humanitäre Unterstützung, der GRH. Was ihn schon als Vorgesetzter im MfS ausgezeichnet hatte, sein soziales Empfinden, sein offenes Ohr für die Probleme seiner Mitarbeiter, seine Fähigkeit anderen zuzuhören, machte ihn auch hier zur „guten Seele“. An sich selbst zuletzt denkend, niemals sein Schicksal beklagend, sich niemals in den Mittelpunkt stellend, sich immer für andere einsetzend,  wurde er zu einer wertvollen Stütze sowohl in der territorialen Arbeitsgruppe der GRH als auch in deren zentralen Arbeitsgruppe Betreuung. Er saß am Krankenbett sterbender Genossen, organisierte Hilfe in Notlagen und war in den Behörden als höflicher, hartnäckiger und kompetenter Fürsprecher bestens bekannt.

Mit seiner Autorität als ehemaliger Vorgesetzter unterstützte er das Wirken der Solidargemeinschaften ISOR und IGA im Kampf gegen das Strafrentensystem.

Die heutige Gesellschaft, in der die Bereicherung einiger Weniger auf Kosten der Allgemeinheit zum Grundprinzip erhoben ist, in der das Geld als oberster und einziger aller Werte fungiert, ist nicht das Ende der Geschichte oder der menschlichen Vernunft. So offen, wie die Zukunft ist, so offen ist auch der Platz, den Paul Kienberg in künftigen Geschichtsbüchern einnehmen wird. Für diejenigen aber, die wie viele der hier Anwesenden an seiner  Seite standen, steht bereits heute fest: Paul Kienberg hat im Kampf für eine bessere Welt, für eine gute Sache, sein Bestes gegeben. Er ist auch in schweren Zeiten seinen Überzeugungen treu geblieben. Wir werden ihm stets ein ehrendes Gedenken bewahren.