Es ist wieder einmal davon die Rede, dass auf
den Deutschen in Ost und West seit der
Zeit des Faschismus und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in ganz besonderer
Weise „Schatten der Vergangenheit“ lasten. Das ist richtig und falsch zugleich,
wenn man bedenkt, wer wie mit wem und warum damit umgegangen ist.
Über die Ausmaße des „Schattens der
Vergangenheit“, über die daraus abgeleiteten Konsequenzen und die damit einhergehenden Widersprüche gab
und gibt es bis heute nicht zu übersehenden politischen Streit. Er zieht sich
immer noch durch alle Parteien und
breite Teile der Gesellschaft und war bis 1989/90 ein weites Kampffeld der
Auseinandersetzung zwischen beiden
deutschen Nachkriegsstaaten. Das war die
vom Antifaschismus sowie vom Willen zu Völkerverständigung und Frieden
geprägten und auf der Seite der Opfern des Faschismus stehenden DDR auf der
einen Seite der Barrikade sowie die auf militanten Antikommunismus und
Revanchismus ausgerichtete BRD mit vor Strafverfolgung geschützten Nazi-Eliten
und faschistischen Verbrechern an den Schalthebeln der Macht und mit deren nachhaltigem
politischen Einfluss nach innen und außen auf der anderen Seite.
Das wurde erst
jetzt wieder mehr als deutlich, seit eine Historiker-Kommission ihre Studie zum
faschistischen Auswärtigen Amt und die nahtlose Übernahme von selbst aufs
Schwerste mit Nazi-Verbrechen belastetem Personal in den auswärtigen Dienst der
Bonner BRD vorlegte.
Vieles von dem, was jetzt in dem 880 Seiten
umfassenden Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ dokumentiert ist, stellt für
geschichtlich Interessierte keinen spektakulären Neuwert da, weil das meiste
davon schon seit den 50er Jahren durch demokratisch gesinnte Akteure im Westen
und insbesondere von Seiten der DDR immer wieder öffentlich gemacht und
dokumentiert worden ist.
Zunächst fällt an dem Buch auf, dass zwar auf eine
Vielzahl von Nazi-Aktivisten und deren verbrecherisches Handeln hingewiesen
wird, aber eine Auflistung all derjenigen mit „brauner Vergangenheit“ im
auswärtigen Dienst der BRD – wie in anderen Bereichen auch - noch immer nicht
zu finden ist.
Da war die DDR mit ihren Veröffentlichungen seit den
50er Jahren zu Nazis in Bonner Diensten - auch in Bezug auf das AA – weitaus
konkreter und hat diese Leute, soweit es der jeweilige Stand der Erkenntnis aus
Archivmaterial und sonstigen Quellen ermöglichte, öffentlich namhaft und damit
auch für die andere Seite bekannt gemacht.
Im Quellen- und Literaturverzeichnis zum Buch (S.
807-861) sind allerdings nur ganz verschwindend gering bzw. so gut wie keine
Quellen aufgeführt, die aus diesseitigen
Veröffentlichungen bzw. Forschungen und Dokumentationen in der DDR resultieren.
Es wird fast ausschließlich auf westliche Quellen aus
der Zeit vor 1990 und solche Bezug genommen, die erst nach 1990 vor allem im
Zusammenhang mit dem vom damaligen BRD-Justizminister Kinkel (FDP) 1991
regierungsoffiziell erteilten Generalauftrag zur Abrechnung mit der DDR und der
danach einsetzenden, einseitig gen Osten gerichteten „Geschichtsaufarbeitung“
und den krampfhaften Versuchen zur Delegitimierung der DDR und des
Antifaschismus entstanden sind.
In der Auflistung von gedruckten Quellen (S. 815 ff)
ist zwar die vom Ausschuss für deutsche Einheit (Berlin- Ost) bereits 1956
herausgegebene Informationsschrift mit dem Titel „ Aus dem Tagebuch eines
Judenmörders“ aufgeführt, aber ein Hinweis auf das im März 1959 vom Ausschuss
vorgelegte Tatsachenmaterial über mehr als
80 namentlich genannte führende westdeutsche Diplomaten ist nicht zu
finden.
Als eine weitere gedruckte Quelle wird die Dokumentation des Ministeriums für
auswärtige Angelegenheiten der DDR „Von
Ribbentrop zu Adenauer“ aus dem Jahre 1961 mit den Namen von über 180
Nazi-Diplomaten angegeben – aber das am
Dabei wurde in
dem unter maßgeblicher Mitwirkung des MfS zu Stande gekommenen Braunbuch
speziell zum faschistischen AA und zur Wiederverwendung von ehemals aktiven
Nazis bis hin zu an Kriegsverbrechen/Verbrechen gegen die Menschlichkeit direkt
oder mittelbar beteiligt gewesenen Tätern
nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich ...“in dem bisher
erschlossenen Archivgut ...Unterlagen über die Tätigkeit von mehr als 520
ehemaligen Nazi-Diplomaten und anderer
getreuer Beamten des faschistischen Staatsapparates...“ befinden, die wieder
führende Positionen im Bonner AA innehatten. Auf den Seiten 233 bis 277 sind zahlreiche
Dokumente und die Namen von 244 leitenden Beamten des Bonne AA sowie der
Botschaften und Konsulate mit Nazi-Vergangenheit öffentlich gemacht worden. Von
diesen 244 namentlich benannten Nazis tauchen im Namensregister des Buches zum
AA lediglich 63 auf.
Das Braunbuch enthält – ausdrücklich als
unvollständige Zusammenfassung
bezeichnet – die Namen von insgesamt 2300 führenden Nazi-Funktionären
bis hin zu Kriegsverbrechern, die sich „... ungehindert in entscheidenden
Stellungen des westdeutschen Staats- und Wirtschaftsapparates betätigen oder
aber hohe Staatspensionen für ihre `verdienstvolle` Tätigkeit im `Dritten
Reich` beziehen...“.
Aufgezählt wurden neben den 244 Angehörigen des AA
- der Bundespräsident ( „KZ-Baumeister“ Heinrich
Lübke)
- 20 Angehörige des Bundeskabinetts und
Staatssekretäre,
- 189 Generale,
Admirale und Offiziere in der Bundeswehr oder in den NATO-
Führungsstäben sowie Beamte im Kriegsministerium
-1118 hohe Justizbeamte, Staatsanwälte und Richter,
- 300 Beamte
der Polizei und des Verfassungsschutzes sowie anderer Bundesministerien.
Signifikant erscheint in diesem Zusammenhang die in der Einleitung zum Buch „Das Amt...“ auf
Seite 19 getroffene Feststellung der Historiker-Kommission über den Umgang mit
alten Nazis in der BRD. Dort heißt es u.a.:
...“Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts standen
die Außenpolitik der Bundesrepublik und mit ihr das Auswärtige Amt unter
Dauerbeschuss aus dem Osten, vor allem aus der DDR. Nicht nur deren „Braunbuch“
von 1965 verwies auf die hohe personelle Kontinuität zwischen dem alten und dem
neuen Amt und auf die NS-Belastung führender westdeutscher Diplomaten. Die
Angaben in dem Buch trafen zum allergrößten Teil zu; aber weil die Vorwürfe aus
der DDR kamen, halfen sie , wie auch der Fall Franz Nüßlein zeigt, im
antikommunistischen Klima des Kalten Krieges den Beschuldigten eher, als dass
sie ihnen schadeten. Und sie trugen dazu bei, dass die in den späten vierziger
und fünfziger Jahren entstandenen Geschichtsbilder und Geschichtslegenden
erhalten blieben und fortwirkten...“.
(Anmerkung
zu Nüßlein: Wegen seiner Beteiligung als Nazi-Staatsanwalt an massenhaften
Todesurteilen gegen Tschechen war er 1947 in der CSR zu 20 Jahren Haft
verurteilt worden. Als nicht begnadigter Kriegsverbrecher wurde er 1955 an die
BRD ausgeliefert und hier unmittelbar folgend ins Auswärtige Amt übernommen.
Dort brachte er es bis zum Referatsleiter in der Zentralabteilung und war von
1962 bis 1974 Generalkonsul in Barcelona).
Sollten wir nun etwa auch noch daran Schuld sein, dass
erst 65 Jahre nach Kriegsende und nach 60 Jahren BRD endlich offiziell
eingestanden die westdeutschen Geschichtslügen und tatsachenwidrigen
Behauptungen aufgedeckt werden?
Die sich aufdrängende Frage, ob die Autoren des Buches
tatsächlich alles an verfügbaren Quellen für ihre durchaus respektable Arbeit
und die vorgelegten Forschungsergebnisse
genutzt haben bzw. nutzen konnten und durften, bleibt bisher unbeantwortet. Die
Autoren der Studie zweifeln – wahrscheinlich nicht zu Unrecht- selbst daran, ob
ihnen alles Material, was sie hätten sehen müssen, auch tatsächlich seitens des
AA und anderer außerhalb des Bundesarchivs Archivgut hortender Einrichtungen
zugänglich gemacht worden ist.
Es fällt auf, dass sich im Quellen- und
Literaturverzeichnis zum Buch so gut wie
kein Hinweis finden lässt auf diejenigen Materialien, die im Zusammenhang mit
dem Braunbuch im Dokumentationszentrum der Staatlichen Archivverwaltung im MdI
der DDR (Dok.-Zentrum) dort seit 1964 zusammengetragen wurden und in -zig
Tausenden von Karteikarten registriert sowie in Dossiers über Personen (Dok.P)
und Sachkomplexe (Dok.K) zusammengefasst worden sind. Dieses Material war mit
dem
Ebenso verhält sich das mit den Erkenntnissen und
Archivunterlagen der HA IX/11 des MfS. Die über 1,5 Millionen Karteikarten
umfassende Personenkartei, Dossiers,
Vorgänge und operativer Schriftverkehr zu Alt-Nazis und zu faschistischen
Verbrechen sind nach 1990 sämtlich in den Besitz der Gauck-Birthler-Behörde
(BStU) übergegangen; die im Archiv der HA IX/11 zusammengetragenen Originalakten aus der Zeit des Faschismus gelangten
ins Bundesarchiv – Außenstelle Hoppegarten.
Unter „Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
(BStU), Berlin“ werden zwar 12 verschiedene
MfS-Diensteinheiten / Hauptabteilungen etc. aufgeführt, aber ohne
konkrete Angaben über dort vorhandenes und als Quelle genutztes Archivgut.
Dabei hätten doch gerade die umfangreich überlieferten
Archivalien der vormaligen HA IX/11 des MfS eine ganz besonders ergiebige
Quelle der Erkenntnis über Alt-Nazis in Bonner Diensten allgemein und speziell
auch im AA ebenso sein können wie über faschistische Systemverbrechen und daran
beteiligt gewesene Täter aus dem AA. In der HA IX/11 wurden auch nach dem letzten
Braunbuch die Forschungen zu den Nazis
in öffentlichen und geheimen Diensten der BRD fortgesetzt. Das betraf den BND
und andere Geheimdienste ebenso wie das AA. Im Zusammenhang mit der in den 70er
Jahren einsetzenden weltweiten diplomatischen Anerkennung der DDR war es
nämlich dringend geboten, darauf zurückgreifen zu können, wenn
Diensteinheiten unserer Aufklärung und Abwehr Informationsbedarf über „wer ist
wer“ bei ihrem Gegenpart hatten. Dazu gab es entsprechende Forschungsvorgänge
(FV) und es wurden zu den identifizierten Nazis Hunderte von Dossiers (PA)
mit Informationen und Dokumenten über
sie angelegt. Ein solcher speziell das
AA betreffender Vorgang war der ca. 20 Aktenordner umfassende FV 15 /75.
Unter Bezugnahme auf diesen FV 17 / 75 der HA IX/11 machte der Journalist Andreas Förster in einem von
der Berliner Zeitung am
Neu an dem Buch und insoweit bedeutsam ist vor allem,
dass
-
diese Studie zustande gekommen ist durch einen im Jahre 2005 vom damaligen
Außenminister Joschka Fischer (Grüne) gegen erheblichen Widerstand der
„Nazi-Mumien“ und ihrer Klientel erteilten offiziellen Auftrag an eine externe
Expertenkommission;
-
durch deren
Courage nunmehr eine weitere von über 60 Jahre lang gehegten und sorgsam
gepflegten westdeutsche Legende entlarvt und „unliebsame“ Wahrheiten offiziell
ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden sind;
-
ausgerechnet ein amtierender FDP-Außenminister der
schwarz-gelben Koalition diese Studie
„regierungsamtlich“ als offizielle
Dokumentation entgegen nehmen musste, wo doch hinlänglich bekannt ist,
dass , wie bei Spiegel-online unter der Überschrift „FDP soll Nazi-Aufklärung
behindert haben“ nachlesbar ist, ein weit in die FDP reichendes Netzwerk noch
bis in die 70er Jahren versuchte, Nazi-Täter zu schützen.
Nun also ist eine weitere große Lebenslüge der BRD (der
Gründungs-Mythos von einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung und quasi
von unbefleckter Empfängnis) geplatzt wie eine zu groß gewordene Seifenblase und
ihre reaktionären Geschichtsdeuter sind von den „eigenen Leuten“ öffentlich und „regierungsamtlich“ als
diejenigen überführt worden, die geschichtliche Wahrheiten nach ihrem Gutdünken leugnen, fälschen und ins Gegenteil
verkehren, was sie gern der DDR und
deren Akteuren unterstellen.
Die von den im Westen Deutschlands nach 1945 wieder in
Amt und Würden gekommenen und an die Schalthebel von Macht und politischem
Einfluss gelangten Alt-Nazis, ihrer Klientel und geistigen Erben über Jahrzehnte gehegte und gepflegte Legende
vom faschistischen AA als „Hort des Widerstandes“ und seines Personals als
„Ritter von edler Gesinnung“ ist nunmehr mit einer regierungsamtlich in Auftrag
gegebenen Dokumentation beweiskräftig
entlarvt und widerlegt.
Das bedeutet aber keineswegs, dass die politische
Auseinandersetzung damit und der „Streit der Historiker“ darüber erledigt ist,
aus und vorbei wäre. Auch wenn das „Rauschen im Blätterwald“ nach den ersten Aufregungen in den letzten
Wochen schon wieder verstummt ist – die Auseinandersetzungen um Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft werden weiter gehen, die Dimensionen zunehmen und an
Schärfe gewinnen!
Wie aktuell die Forderungen nach Untersuchungen zur
Nazi-Vergangenheit und zur Rolle von Alt-Nazis in der alten BRD und bis in die
Gegenwart hinein sind, belegen immer lauter werdende Forderungen nach weiteren
Untersuchungen auch im anderen Ministerien, öffentlichen und geheimen Diensten
sowie weiteren gesellschaftlichen Bereichen und Einrichtungen.
Das betrifft derzeit z.B. das Reichsfinanzministerium
und dessen Rolle bei der „Arisierung“ und Finanzierung der Kriegspolitik ebenso
wie die personelle Kontinuität in den bundesdeutschen Finanzbehörden. (Hierzu
nur folgende Anmerkung: Wenn es nach
Leuten wie Herrn Knabe vom „Gruselkabinett“ in Hohenschönhausen gegangen wäre,
hätte ein an dem als „Arisierung“ tituliertem Nazi-Verbrechen zur Entrechtung
und Ausplünderung von Juden unmittelbar Beteiligter Namenspatron für einen
„Walter Linse-Preis“ sein und ihm so „ehrendes Gedenken“ als „Opfer der Stasi“
zuteil werden sollen.)
Untersuchungen/Studien zu anderen
Ministerien/Einrichtungen/Organisationen etc. müssen und werden folgen – das
ist nicht mehr aufzuhalten.
Die Büchse der Pandora ist zwar erst einen Spalt breit
geöffnet, aber all die skrupellosen Weißwäscher, Nazi-Klientel und „Schweinejournalismus“ werden sie nicht mehr schließen können. Auch und vor allem die
BRD-Geheimdienste und die Kumpanei der Justiz mit den dort massenhaft
angesiedelt gewesenen Nazi-Verbrechern werden
davon nicht mehr ausgenommen werden können.
Erste Ansätze dazu liegen bereits vor - auch wenn sich
so manche immer noch vor einer vollständigen Nazi-Aufklärung scheuen.
Insoweit erschein das jetzige „Erschrecken“ mancher
Leute in Politik und Gesellschaft, allen voran in den Medien, über das Ausmaß
von wieder verwendeten Nazis im diplomatischen Dienst der BRD – und anderswo - als
pure Heuchelei und als Ausdruck dessen zu verstehen, wie in der BRD über
Jahrzehnte mit der Nazi-Vergangenheit umgegangen wurde und welche Mythen bis in die Gegenwart hinein gepflegt worden
sind.
Der Aufschrei der „Nazi-Mumien“ und ihrer geistigen
Erben konnte darum auch nicht ausbleiben.
Schon mehren sich öffentlich diejenigen Stimmen, die
sich auf Adenauers Forderung aus dem Jahre 1952 berufen, dass endlich Schluss
sein müsse mit der „Nazi-Riecherei“!
Zugleich werden zum Zwecke der Ablenkung und zur
Reinwaschung der BRD massiv weitere Forderungen
dahingehend aufgemacht, dass man sich
doch endlich mehr der „Aufarbeitung“ des „SED-Unrechtsstaates“, der „Zweiten
deutschen Diktatur“ und der „Stasi-Verbrechen“ widmen solle, als im Nachhinein
das öffentliche Ansehen der BRD weiter zu schädigen.
Man darf gespannt sein, wie sich die Haltung zur
Geschichte und der Umgangs mit ihr weiter entwickeln und wie sich so manche aus
der Riege der „Saubermänner“ und ihrer „Nachfolger im alten Geiste“ ,
„Gewendete“ und „Angekommene“ noch drehen und wenden werden.
Dieter Skiba
Berlin,