Der größte Lump…?

Unter diesem Thema veranstaltete die BStU am 19.03.2013 eine Podiumsdiskussion im Collegium Hungarium Berlin. Die große Zuschauerresonanz erklärte sich aus Veröffentlichungen im Zusammenhang mit der Neuerscheinung des Buches „Stasi konkret“ des BStU-Mitarbeiters Ilko-Sascha Kowalczuk, welches große Aufmerksamkeit in den Medien erfahren hatte.

Tatsächlich hatte Kowalczuk in diesem Buch und vor allem z.B. in einem Interview mit der SUPERillu Nr. 09/2013 ungewohnte Töne angeschlagen. IM sei nicht IM, nicht jeder IM sei ein Verräter gewesen, die Macht der „Stasi“ werde überschätzt, sie sei der SED unterstellt gewesen, die „Stasi“ und die IM seien zum Sündenbock gemacht worden, auch von der SED/PDS, die so ihr Überleben gesichert habe. Filme wie „Das Leben der Anderen“ hätten Bilder über die „Stasi“ zementiert, die mit der Realität tatsächlich nur schwer zu vereinbaren seien, die meisten IM hätten weder über Familie noch über Freunde, viele noch nicht einmal über Dritte berichtet, sondern über Arbeitsprobleme, Engpässe, Havarien etc. Nur wenige seien auf Andersdenkende angesetzt worden. Die meisten IM hätten nur wenige Jahre berichtet aus Motivationen, die längst nicht alle so verwerflich seien, wie oft getan werde. Die DDR-Biografien müssten in ihrer Vielfältigkeit und auch Widersprüchlichkeit wahrgenommen und nicht auf eine IM-Tätigkeit eingeengt werden. Die Skandalisierung von „Stasi“-Fällen müsse endlich aufhören und die Betrachtung auf das konzentriert werden, was tatsächlich beweisbar sei.

Schließlich wörtlich: “Die Stasi ist letztlich in einem Maße dämonisiert worden, dass ein unverstellter, realistischer und nüchterner Blick auf das SED-System und die DDR-Gesellschaft sehr stark beeinträchtigt worden ist.“

Im Podium der Veranstaltung bemühten sich dann Dr. Jens Gieseke (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Dr. Helmut Müller-Enbergs (BStU), Prof. Dr. Klaus Schröder (Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin) und Christian Booß (BStU) gemeinsam mit dem Autor des Buches die von den Medien als „heftige Kontroverse“ in der BStU hochgeschriebene Angelegenheit zu begradigen. Roland Jahn, der ursprünglich teilnehmen wollte, ließ sich aus Krankheitsgründen entschuldigen.

Insgesamt wurde sichtbar, dass es sich wohl eher um einen Sturm im Wasserglas gehandelt hat und um eine, von Kowalczuk energisch bestrittene, Marketingkampagne für sein Buch. Der Grundkonflikt in der BStU zwischen Mitarbeitern, die sich seriöser Forschung verpflichtet fühlen und antikommunistischen Eiferern, die die MfS-Akten lediglich als Steinbruch für absurdeste Diffamierungen des MfS und der DDR oder zur Diskreditierung linker Persönlichkeiten benutzen, existiert seit der Bildung dieser Behörde. Bezeichnenderweise sah sich z.B. Jens Gieseke veranlasst zu betonen, dass nicht jede neue wissenschaftliche Erkenntnis zum MfS eine Verharmlosung des MfS darstelle.

Die Diskutanten waren sich darin einig, dass die veröffentlichten IM-Zahlen nicht das eigentliche Problem seien, sondern deren Interpretation und differenzierte Betrachtung. Das zu diesem Thema längst umfangreiche Veröffentlichungen aus den Reihen des MfS vorliegen, war selbstverständlich kein Thema. Der Kaderleiter, der als gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit (GMS) das MfS unterstützt hat, unterschied sich kaum von einem Kaderleiter, der ganz offiziell mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Seine Einordnung als IM ist deshalb ebenso fraglich, wie die den IM-Gesamtzahlen zugeschlagenen IMK, also Personen, die das MfS lediglich durch Zurverfügungstellung von Wohnungen, Adressen oder Telefonen unterstützt haben.

Nicht nur Kowalczuk, auch andere im Podium sprachen von der Dämonisierung des MfS, von der Erklärung des MfS zum Sündenbock, davon, dass nicht jeder IM automatisch ein Spitzel oder Denunziant gewesen sei, während Kowalczuk seine eigenen Aussagen relativierte. Er habe nur Fragen gestellt, auf die noch keine endgültigen Antworten gefunden seien.

Vor allem Prof. Schröder bemühte sich redlich, an der Verteufelung des MfS und der DDR keine Abstriche zuzulassen. Der Berliner würde sagen: „Nachtigall ick hör dir trapsen“, wenn er die gesamte DDR-Gesellschaft zu einer Denunziationsgesellschaft erklärte. Zwei Millionen Denunzianten hätte es in der DDR gegeben, keineswegs nur die IM, sondern z.B. auch die 150.000 freiwilligen Helfer der Volkspolizei. Also jeder, der die „SED-Diktatur“ freiwillig unterstützt habe müsse letztlich als suspekt angesehen werden. Überhaupt müsse man sich stärker mit der Rolle der SED beschäftigen und der „SED-Nachfolgepartei“ – nun ja, immerhin stehen wieder einmal Wahlen an.

Aber auch die BStU mischt fleißig mit und will in einem Jahr ein Projekt zur „Denunziationsforschung“ vorstellen. Nachdem der „Stasi-Knochen“ abgelutscht ist sucht diese Behörde offenbar nach einer neuen Legitimation ihrer Tätigkeit.

Die wichtigste Frage zu den IM wurde auf dieser Veranstaltung weder gestellt noch beantwortet. Im „Neuen Deutschland“ vom15.03.2013 war in einem Bericht über eine Zusammenkunft von Linkspolitikern mit Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen zu lesen, dass V-Leute des Verfassungsschutzes  zwar „Verräter“ und „Schmutzfüße“ seien, die aus niederen Motiven wie Geld und Missgunst redeten. Trotzdem seien sie ein „probates Mittel“.

Wie war das denn beim MfS? Spielten nicht politische Überzeugungen, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft im Kampf für eine bessere Welt, humanistische und antifaschistische Ideale eine maßgebliche Rolle? Jedenfalls lässt sich die Tatsache, dass 1988 sämtliche CIA-Agenten in der DDR und 160 der 180 Agenten des Bundesnachrichtendienstes der BRD in der DDR vom MfS (einige auch vom KGB der UdSSR) „gegengesteuert“ waren, mit den Denkmustern der BStU nicht erklären. Waren sie alle wirklich nur – wie Dr. Helmut Müller-Enbergs ausführte – vom MfS „Verführte“?

W.S.

24.03.2013