Sommerlochthema: Schießbefehl
In den Hauptnachrichten von ARD, ZDF, RBB vom 10.08.07, im „Spiegel“, Tagesspiegel“ vom 11.08.07 und sicherlich in anderen meinungsbildenden Medien auch wurde von einem brisanten Aktenfund in der BStU-Außenstelle Magdeburg berichtet. Endlich habe man einen bisher nie belegbaren – bei der Verurteilung von DDR-Bürgern im Zusammenhang mit Schüssen an der Grenze aber immer vorausgesetzten – „Schießbefehl“ entdeckt.
Anscheinend aus einem in einer IM-Akte enthaltenen Auftrag
wird zitiert: „Zögern Sie nicht mit der
Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit
Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht
haben“.
Dieser Auftrag wurde vermutlich an einen IM erteilt, der die Fahnenflucht von Angehörigen der Grenztruppen verhindern sollte.
Es handelt sich also um einen Auftrag eines Führungsoffiziers und nicht um einen Befehl oder eine Dienstanweisung.
Unklar bleibt, welche ominöse Spezialeinheit des MfS innerhalb der Grenztruppen der DDR existiert haben soll. Die Verhinderung von Fahnenfluchten war Auftrag aller IM in den Streitkräften der DDR. Fahnenflucht war eine Militärstraftat nach § 254 des StGB der DDR. Sie wird auch heute als Militärstraftat gemäß § 16 des Wehrstrafgesetzes der BRD mit bis zu 5 Jahren Freiheitsentzug bestraft.
Die Anwendung von Schusswaffen war - wie in allen anderen bewaffneten Organen der DDR - auch im MfS durch eine Schusswaffengebrauchsbestimmung penibel geregelt. Bevor ich eine persönliche Dienstwaffe ausgehändigt bekam, musste ich, wie alle anderen Angehörigen des MfS diese Schusswaffengebrauchsvorschrift studieren und ihre Kenntnisnahme mit meiner Unterschrift bestätigen. Regelmäßig vierteljährlich musste ich ebenso mit Unterschrift aktenkundig erklären, dass ich mit dem Inhalt der Schusswaffengebrauchsvorschrift vertraut bin.
Für die Anwendung der Schusswaffe an der Staatsgrenze galt das Grenzgesetz der DDR, das einen speziellen Paragraphen zur Anwendung der Schusswaffe enthielt (§ 27 Grenzgesetz der DDR)
Kein Führungsoffizier des MfS konnte diese allgemeinverbindlichen Vorschriften außer Kraft setzen oder verändern.
Als 1973 (in Auswertung des Dramas der Olympiade in München) zur Verhinderung terroristischer Anschläge auf ausländische Teilnehmer der Weltfestspiele in Berlin eine zeitweilige Arbeitsgruppe Ausländische Festivalteilnehmer je zur Hälfte aus Angehörigen des MfS und der Deutschen Volkspolizei gebildet und worden war und ihre Einsatzstärke von mehr als 3.000 erreicht hatte, war es notwendig geworden, den Einsatz der Schusswaffe bei möglichen Geiselnahmen u. ä. zu regeln. Das konnte nur der Minister für Staatssicherheit in Abstimmung mit dem Minister des Inneren. Eine entsprechende, von Erich Mielke unterzeichnete Anweisung für den Einsatz der Schusswaffe unter diesen besonderen Bedingungen wurde von mir persönlich nach der Auflösung dieser zeitweiligen Arbeitsgruppe im September 1973 zusammen mit weiteren Unterlagen archiviert und liegt ebenso wie die Schusswaffengebrauchsbestimmung des MfS in der BStU vor.
Die Aufforderung an einen IM, die Schusswaffe ohne zu zögern einzusetzen, hebt die allgemeinen Vorschriften für den Einsatz der Schusswaffe nicht auf, sondern besagt nur, dass auch in einem solchen Fall, bei dem ein Fahnenflüchtiger nach der heutigen Terminologie mit menschlichen Schutzschilden operiert, auf einen Schusswaffeneinsatz gegen ihn nicht verzichtet werden sollte. (es ging also nicht um einen Schusswaffeneinsatz gegen Frauen und Kinder) Von einem Schusswaffeneinsatz „ohne Vorwarnung“ ist in dem veröffentlichten Text nichts zu lesen, wie auch das gesamte Dokument – aus welchen Gründen auch immer – vermutlich geheim bleiben wird. Was Zuschauer oder Leser zur Kenntnis nehmen dürfen, bestimmen Herr Knabe und Frau Birthler. Ob es dabei um die Aufdeckung der Wahrheit oder um gezielte Hetze gegen die DDR handelt, muss schon jeder selbst herausfinden.
Die Aufforderung zum Einsatz der Schusswaffe ist keinesfalls „Anstiftung zum Mord“ oder eine „Lizenz zum Töten“. Der Einsatz der Schusswaffe war den allgemeinen Vorschriften nach immer vom Ziel bestimmt die davon betroffene Person kampf- bzw. fluchtunfähig zu machen und letztlich festzunehmen. Das dabei auch Menschen getötet wurden, ist ebenso bedauerlich wie heutige Vorkommnisse, bei denen Personen von Polizisten oder verdeckten Ermittlern erschossen werden.
Mitten im Sommerloch und „rein zufällig“ passend zum Jahrestag des 13. August 1961 haben Herr Knabe und Frau Birthler wieder einmal mit Unterstützung gleichermaßen unkritischer wie diensteifriger Medien ihre Wichtigkeit unterstreichen können. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die geforderten staatsanwaltlichen Ermittlungen ausgehen werden wie das Hornberger Schießen.
Wolfgang Schmidt
11.08.2007
Nachtrag:
Nur einen einzigen Tag dauerte es, dann stellte sich heraus, dass der sensationelle Fund der BStU ein Dokument betrifft, das schon seit 1994 bekannt und bereits 1997 auszugsweise veröffentlicht worden war. Seinerzeit allerdings nicht mit der perfiden Ausdeutung der letzten Tage, gipfelnd in der Unterstellung eines "uneingeschränkten, flächendeckenden, bedingungslosen Schießbefehls gegen Frauen und Kinder".
Handelt es sich hier um Schweinejournalismus, Volksverhetzung pur, ritualisierte Stasi-Hysterie oder ist das ganze nur Erfüllung des normalen politischen Auftrags angeblich unabhängiger Medien?
W. S.
13.08.2007
2.Nachtrag:
Wider Erwarten veröffentlichte heute der "Spiegel" den vollständigen Auftrag für inoffizielle Mitarbeiter einer Einsatzkompanie, der vom "Spiegel" als "Dienstanweisung" bezeichnet wird. Diejenigen, die aus diesem Auftrag einen "bedingungslosen Schießbefehl" im Sinne einer Anweisung zum Töten von Frauen und Kindern ableiten, haben vermutlich absichtsvoll überlesen, das es im entsprechenden Abschnitt dieses Auftrages um die Verhinderung von Fahnenfluchten geht. Dabei wird u. a. gefordert, "...nach erfolgter Anwendung der Schusswaffe ... Erste Hilfe zu leisten..." sowie "... immer entsprechend den Grenzdienstvorschriften zu handeln..."
Ebenfalls zu erfahren war, dass dieses Dokument schon 1993 der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungskriminalität und 1996 dem Landgericht Berlin vorlag. Die geforderten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen müssten sich also auch gegen diese Stellen wegen des Verdachtes der Strafvereitelung richten.
Nebenbei erfährt man auch, dass die Leitung der BStU schon im Juni 2007 von der Magdeburger Außenstelle über den Dokumentenfund informiert war, offenbar aber abgewartet hat, die "Sensation" pünktlich vor dem 13. August zu verkünden.
W.S.
14.08.2007
Kommentar eines Ex-DDR-Bürgers dazu
Prof. Willi Opitz: "Es gab, es gibt keinen Schießbefehl!"
"junge Welt" zum Thema:
Wiglaf Droste: "Hubertuslied"
Dokumentiert: Schüsse an der anderen deutschen Grenze
Der Fund und der Feind
Anzeige wegen Volksverhetzung
Text der Strafanzeige des
Hamburger Anwalts Armin Fiand
Antwort der Staatsanwaltschaft
Dienstaufsichtsbeschwerde