Berlin, den 29.06.2022
Herrn
Thomas Baumann
ARD-Hauptstadt-Studio
Wilhelmstr. 67a
10117 Berlin
Ihr
Kommentar in der Sendung Tagesthemen am 28.06.2022 zum Urteil gegen einen
101-jährigen ehem. KZ-Wachmann
Sehr geehrter Herr Baumann,
im o.g. Kommentar stellten sie zutreffend fest:“ Die
lasche Verfolgung von NS-Verbrechen gehört zu den größten Versäumnissen der
deutschen Justiz. Häufig hat sie die Aufarbeitung der Untaten verhindert, weil
ihre Richter selbst Nazis gewesen waren.“
Sie relativierten diese Aussage aber anschließend, indem
sie ausführten:“ In der DDR hat man
die Aufarbeitung von NS-Unrecht nicht besser bewältigt - im Gegenteil: Die
Stasi hat ihr Wissen über NS-Täter vielfach instrumentalisiert, ihnen für
Mitarbeit Straffreiheit angeboten. Was für eine Verlogenheit.“
Das ist eine üble Verfälschung
der Geschichte. Auf die Einwohnerzahl berechnet wurden in der DDR ca. 6 Mal so
viele Nazi- und Kriegsverbrecher verurteilt wie in der Bundesrepublik. Die
Strafen lagen dabei weitaus höher und schlossen in 127 Fällen auch die
Todesstrafe ein. In der Bundesrepublik wurde die Todesstrafe frühzeitig
abgeschafft, nicht zuletzt auch, um selbst schlimmsten Nazi-Verbrechern ein
solches Urteil zu ersparen. In diesem Zahlenvergleich bleibt unberücksichtigt,
dass erwiesenermaßen gegen Ende des II. Weltkrieges schwer belastete
Nazi-Verbrecher scharenweise vor den „Russen“ in die Westzonen flohen, weil sie
hier eine schonendere Behandlung erwarteten.
Das MfS kam nicht umhin, Personen
mit Nazi-Vergangenheit anzuwerben, stützten sich doch die bundesdeutschen
Geheimdienste – wie die Justiz von belasteten Nazis durchsetzt – anfangs bei
ihrer subversiven Tätigkeit gegen die DDR im besonderen Maße auf die „alten
Kameraden“.
Ihre Behauptung, das MfS habe
inoffiziellen Mitarbeitern Straffreiheit angeboten ist eine infame Lüge, die
durch ständige Wiederholung nicht wahrer wird. Unter den in der DDR
verurteilten Nazi-Verbrechern befinden sich auch ehemalige IM des MfS ebenso
wie Personen, die sich nach 1945 engagiert am Aufbau der DDR beteiligt haben.
Nach 1990 hätte die
bundesdeutsche Justiz die Gelegenheit gehabt, vom MfS angeblich geschonte
Nazi-Verbrecher vor Gericht zu stellen, eine IM-Tätigkeit hätte dabei sicher
zusätzlich motiviert. Mir ist kein derartiger Fall bekannt, wie auch kein
einziger MfS-Mitarbeiter wegen Strafvereitelung angeklagt worden ist.
Der anerkannte Experte für
Nazi-Verbrechen Prof. Dr. Rüter (Universität Amsterdam, Herausgeber der
Dokumentation „Die ostdeutschen Strafverfahren wegen NS-Tötungsverbrechen“) hat
der Behauptung, die DDR habe hunderte Naziverbrecher geschützt eine klare Absage
erteilt. Auf einer Fachtagung am 25. Oktober 2002 mit 40 Persönlichkeiten aus
Ost und West kam er zu der Feststellung, dass auch 12 Jahre nach der „Wende“
keine einzige dieser Personen aufgetaucht sei. Wörtlich führte er aus: “Auch
ich bin bei den 40 Behörden, vom Bundesministerium für Justiz über die
Gauck-Behörde bis zum letzten Landesarchiv nicht auf sie gestoßen. Und die
Staatsanwälte der Zentralen Stelle, die immerhin jahrelang die Archive des MfS
durchforstet haben, haben sie ebenso wenig zutage fördern können. Niemand von
diesen Hunderten ist nach 1990, als alles besser gemacht werden sollte, vor
Gericht erschienen. All dies müsste, so würde man meinen, einigen Leuten
aufgefallen sein.“
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Schmidt