04.03.2023 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)

»Die Zahl der Morddrohungen hat deutlich abgenommen«

Über volle Hosen, Querschnittswissen und die Arbeitsbilanz des Insiderkomitees ehemaliger Mitarbeiter des MfS. Ein Gespräch mit Wolfgang Schmidt

Nico Popp

Sie haben im Januar angekündigt, dass die Internetseite des Insiderkomitees zur kritischen Aneignung der Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit Ende April abgeschaltet wird. Welche Aufgabe hatte diese Internetseite, und was war oder ist das dahinterstehende Insiderkomitee?

Das Komitee hat sich 1992 als Zusammenschluss ehemaliger Mitarbeiter des MfS gegründet. Das war eine Reaktion auf die damalige Debatte über die Staatssicherheit, die hysterische Züge angenommen hatte. Eine Riesenorganisation war unser Kreis aber nicht. Es waren maximal 100 Mitglieder und Sympathisanten, die sich einigermaßen regelmäßig getroffen und verständigt haben. Wir hatten am Anfang große Schwierigkeiten, Räume für Zusammenkünfte und Veranstaltungen zu finden. Überall hatte man die Hosen gestrichen voll. Ausgeholfen hat uns dann ohne viele Worte das kurdische Kulturhaus in Berlin-Oberschöneweide. Das Komitee war zunächst ein eingetragener Verein und hat sich später der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde als Arbeitsgemeinschaft angeschlossen. Viele aus dem Kreis der Gründer sind inzwischen verstorben oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr aktiv. Seit 2006 existiert das Insiderkomitee nur noch als informeller Zusammenschluss. Der Internetauftritt, um den ich mich gekümmert habe, ist gewissermaßen als letzter Tätigkeitsnachweis bis jetzt zugänglich geblieben.

Kannten sich die ehemaligen Mitarbeiter des MfS, die sich da 1992 zusammengefunden haben, schon vor 1989?

Nicht jeder kannte jeden, aber es gab Beziehungen untereinander, die es in der damaligen komplizierten Situation ermöglicht haben, sich zu finden und zusammenzuschließen.

Was hatte sich das Komitee damals vorgenommen?

Wir haben seinerzeit bewusst das Wort »kritisch« in den Namen hineingenommen, weil wir der Überzeugung waren, dass die schreckliche Niederlage von 1989 auch Ursachen in der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit gehabt haben muss. Dass hier Fehler gemacht worden sind, die es kritisch zu betrachten gilt. Uns war auch klar, dass alle Versuche, sich dieser Geschichte mit der alleinigen Absicht zu nähern, zu beschönigen und zu rechtfertigen, wenig glaubwürdig sind und kaum Resonanz finden werden. Es gab damals viele nachdenkliche und selbstkritische Diskussionen – bis zu dem Punkt, dass es in den eigenen Reihen die Kritik gab, wir würden nun auch noch das auf den Tisch legen, was die Gegenseite noch gar nicht wisse. Nach und nach hat sich dann aber doch die Einsicht durchgesetzt, dass wir in der Auseinandersetzung mit den unablässigen Verleumdungen keinen anderen Verbündeten haben als die Wahrheit und dass es, weil die Akten ja größtenteils vorliegen, keinen Zweck hat, Dinge zu verschweigen. Überzeugt hat auch unsere strikte Weigerung, Angaben zu ehemaligen inoffiziellen Mitarbeitern des MfS preiszugeben. Wir haben auf diese Weise über den Kreis der etwa 100 Leute hinaus einen ständigen Austausch mit Mitgliedern anderer Zusammenschlüsse und Organisationen erreicht. Unsere Publikationen sind auf der Internetseite dokumentiert, man kann sie also bis zur Abschaltung noch herunterladen.

Ist mit dem angekündigten Ende der Webseite auch das Ende der Aktivitäten des Insiderkomitees gekommen?

Wir regeln gewissermaßen gerade unseren Nachlass. Nachwuchs für unseren Zusammenschluss gibt es nicht, denn das müsste ja jemand sein, der oder die ein Mindestmaß an Überblicks- und Querschnittswissen über das MfS hat. Der Kreis der Leute, die dieses Wissen haben, wird immer kleiner. Es kam ja erst ab einer bestimmten Leitungsebene ein komplexes Wissen über das MfS zustande. Und diese Generation ist inzwischen arg gebeutelt. Von der Führungsspitze des Ministeriums lebt niemand mehr, und von den 15 letzten Leitern der Bezirksverwaltungen leben nur noch zwei. Ich bin im Gespräch mit befreundeten Organisationen, um sicherzustellen, dass ein Teil der Inhalte unserer Internetseite auf deren Internetseiten übernommen wird.

Sie waren im Zusammenhang mit der Seite über die Jahre mehrmals in rechtliche Auseinandersetzungen verwickelt. Worum ging es dabei?

Maßgeblicher Initiator dieser Dinge war der hinlänglich bekannte Hubertus Knabe, damals Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Er hat das im Unterschied zu mir auf Staatskosten betrieben. Es begann damit, dass ich ihn in einem Artikel als »Volksverhetzer vom Dienst« bezeichnet habe, nachdem er in einer Thüringer Zeitung Mitarbeiter des MfS mit dem faschistischen Mörder Josef Blösche gleichgesetzt hatte. Das war der Gipfel der Unverschämtheit. Meine Formulierung ist dann gerichtlich als von der Meinungsfreiheit gedeckt anerkannt worden, aber diese Auseinandersetzung hat sich über mehrere Jahre hingezogen, und für eine andere Äußerung in diesem Zusammenhang wurde ich zu einer Geldstrafe verurteilt. Später hat mich Knabe – auffälligerweise eine Woche nach Amtsantritt eines Justizsenators von der CDU – angezeigt wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, weil ich Johann Burianek von der sogenannten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit einen »Angehörigen einer terroristischen Vereinigung« genannt hatte. Das war für Knabe ein rotes Tuch. Am Ende ist das über sechs Jahre bis zum Bundesverfassungsgericht gegangen, das entschieden hat, dass auch das von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Das war eigentlich die wichtigste Justizsache. Durchgestanden habe ich das nur, weil ich viele Menschen an meiner Seite hatte, die mich unterstützt haben. Den Ablauf und die einzelnen Urteile kann man auf der Internetseite nachlesen.

Die von Ihnen veröffentlichte Begründung für die Abschaltung der Internetseite dürfte manche überraschen. Da steigen Sie ein mit dem Befund, dass das Thema MfS »erschöpft« sei. Was meinen Sie damit?

Es wird immer mal wieder das eine oder andere ausgegraben werden. Aber es gibt schon lange keine substantiell neuen Entdeckungen mehr. Seit Jahren handelt es sich bei den Veröffentlichungen zum Thema fast durchweg um den dritten, vierten oder fünften Aufguss von längst bekannten Sachverhalten und Debatten. Die ursprüngliche Idee der offiziellen Aufarbeitung, dass mit der Öffnung der Akten des MfS unsagbare Verbrechen aufgedeckt werden, hat sich längst in aller Stille erledigt. Rund 30.000 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitarbeiter des MfS führten zu ganzen zwei Verurteilungen zu Haftstrafen. Sogar der ehemalige Minister für Staatssicherheit musste für eine Tat aus dem Jahr 1931 vor Gericht gestellt werden, weil man keinen anderen Ansatzpunkt fand. Für alle Hauptvorwürfe gegen das MfS – Mord, Auftragsmord, systematische Folter – hat man keine Belege gefunden, obwohl in einer eigens eingerichteten Behörde mit riesigem Aufwand jahrzehntelang jedes Blatt Papier umgedreht wurde. Da ist die Luft raus, auch wenn natürlich klar ist, dass das, solange Leute davon leben, immer wieder in irgendeiner Form vorgebracht werden wird.

Eine politische Funktion hat das ja weiterhin.

Genau. Es geht am Ende gar nicht um das MfS. Man schlägt den Sack und meint den Esel. Es geht ganz einfach darum, die DDR zu reduzieren auf die Formel »Mauer und Stasi«. Und solange das funktioniert – und es funktioniert ziemlich gut – werden viele Menschen nicht darüber nachdenken, dass die DDR mit ihren emanzipatorischen Ansätzen in vielen gesellschaftlichen Feldern und als Staat des Friedens, als Staat ohne Ausbeutung, ohne Arbeitslosigkeit, ohne Geldgier als hauptsächliches Antriebsmittel, ohne Ausplünderung anderer Länder eine Alternative zu dieser Gesellschaft gewesen ist. Das fällt alles unter den Tisch, sobald jemand »Stasi« ruft.

Dann ist doch offenbar noch eine ganze Menge zu tun. Dennoch schreiben Sie in Ihrer Erklärung, dass bereits 2008, als die regelmäßige Veranstaltungsreihe des Insiderkomitees eingestellt wurde, im Grunde »alles gesagt« war.

Wir haben das Thema über die Jahre in allen uns wesentlich erscheinenden Aspekten ausgeleuchtet – häufig auch mit Gästen, die sich als Opfer des MfS verstanden haben, oder mit Wissenschaftlern. Viele Themen sind mehrfach behandelt worden. Vieles wiederholte sich dann, ohne dass wir immer zu einer einheitlichen Auffassung gekommen wären. Aber die Fakten und die großen Zusammenhänge zu den wesentlichen Fragen lagen bei uns immer wieder auf dem Tisch. Neue Perspektiven zeichneten sich schon damals nicht mehr ab. Selbstverständlich kann man, wie das ja die ehemalige Unterlagenbehörde in ihren Veröffentlichungen gemacht hat, noch endlos Untersuchungen zu nachrangigen Nischenthemen produzieren, etwa zur Arbeit des MfS an der Medizinischen Hochschule in Erfurt. Substantiell neue Erkenntnisse kommen dabei aber regelmäßig nicht mehr heraus.

Was ich aus Ihrer Erklärung herauslese, ist zumindest eine Tendenz zu der Position, dass im Grunde nur diejenigen, die das schon angesprochene Querschnittswissen durch die Praxis erworben haben, sich ein substantielles Urteil über das MfS erlauben können. Erschweren Sie dadurch nicht einer neuen Generation von Forschern, die vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren ganz andere Fragen zum Thema »Sicherheit« in der DDR stellt, den Anschluss an Perspektiven, wie sie etwa das Insiderkomitee vertreten hat?

Das Überblickswissen ist ein zentraler Aspekt der kritischen Auseinandersetzung mit dem MfS, und das geht mit der Generation derjenigen, die zuletzt die Leitungsebene stellten, unweigerlich verloren. Auch der normale Mitarbeiter war ja angehalten, nur das zu wissen, was für sein unmittelbares Arbeitsgebiet von Bedeutung war. Aber wir haben unser Wissen und unsere Erfahrungen hinterlassen – in Form von Sachbüchern und in Form von Erinnerungsliteratur. Es gibt da mittlerweile eine ganze Bibliothek. Nachzulesen, wie wir das sehen, ist also jederzeit möglich. Diese Arbeit ist getan, und das bleibt.

Gleichzeitig konstatieren Sie, dass eine Versachlichung der Debatte über das MfS nicht mehr zu erwarten ist. Wenn das der Sachstand ist, dann ist doch die Aufgabe der kritischen Aneignung, der Sie und andere sich vor über drei Jahrzehnten gestellt haben, nicht erfüllt – es sei denn, man sagt, gut, wir haben unsere Erinnerungen aufgeschrieben, wir haben Wissen gesichert, aber in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung haben wir eine vollständige Niederlage erlitten und räumen jetzt das Feld.

Das kann man so sehen, aber überraschend ist das natürlich nicht. Dass wir Aussichten haben, uns gegen diesen riesigen, mit Personal und Geld überreichlich ausgestatteten Apparat in einer fast durchweg feindseligen Medienlandschaft durchzusetzen, haben wir auch 1992 nicht angenommen. Wir haben auch nicht angenommen, dass wir mit guten Argumenten und Fakten die Gegenseite davon abbringen werden, die DDR und das MfS zu verteufeln. Es ist am Ende einfach eine Frage der Selbstachtung gewesen, dass wir uns öffentlich positioniert haben.

Sie betonen in der Erklärung, dass sich die juristische Verfolgung ehemaliger MfS-Mitarbeiter als »Flop« erwiesen habe. Und doch werden, mal ganz abgesehen von den großen Linien der Geschichtspolitik, etwa von der Kulturindustrie unverdrossen weiter die lächerlichsten Klischees reproduziert. Vor ein paar Monaten erst ging eine Serie über eine »Stasi-Killerin« an den Start. Wie kann man das erklären?

Das politische Interesse an diesem Zeug ist grundsätzlich gleichgültig gegenüber den Fakten. Im Grunde ist das ein Selbstläufer geworden. Und das reichte und reicht weit hinein in linke Kreise, etwa seinerzeit in die PDS und heute in die Linkspartei. Am Anfang der Geschichte der PDS stand 1990 ja unter anderem auch die Idee, dass, wenn das MfS als Prügelknabe herhalten muss, man selber ein bisschen weniger abkriegt.

Hätte das auch anders laufen können? Haben Zusammenschlüsse wie der Initiativkreis vielleicht Fehler gemacht, die mögliche Verbündete verprellt haben?

Für uns würde ich sagen, dass wir gar keine anderen Möglichkeiten hatten als die, die wir genutzt haben. Wir hatten auf der politischen Ebene von Anfang an nahezu keine Verbündeten. Beim Thema DDR ist das schon sehr schwierig, und beim Thema MfS sind sofort alle Schotten dicht. Dazu kommt seit einigen Jahren auch ein verbreitetes Desinteresse. Für viele Zeitgenossen ist die Geschichte der DDR inzwischen so weit weg wie der Bauernkrieg. Mehr und mehr haben die Leute auch andere Probleme, die mit der DDR gar nichts mehr zu tun haben: Krieg, Teuerung, fehlende Wohnungen, explodierende Mieten, Umweltkrise.

Eine interessante Verschiebung der Perspektive hat es in den vergangenen Jahren bei Akteuren der sogenannten Aufarbeitung gegeben. Mindestens zwei Jahrzehnte lang gab es auf allen Ebenen eine ausgesprochene Konzentration auf das »Stasi«-Thema. Bis heute ist ja zum Beispiel die Geschichte der SED viel weniger gründlich erforscht als die der Staatssicherheit. Zuletzt mehrten sich allerdings die Stimmen, die mehr oder weniger offen darüber räsonieren, dass diese Fixierung auf die Staatssicherheit ein Fehler gewesen sei, weil dadurch – das ist offensichtlich die Überlegung – die »restliche« DDR nicht schwarz genug gemalt wurde.

Uns ist auch aufgefallen, dass sich da manches verschoben und – was uns betrifft – abgemildert hat. Ich bin mir aber sicher, dass diese Leute das, was sie jahrzehntelang mit gewaltigem Ressourceneinsatz verbreitet haben, nicht mehr einfangen können, auch wenn einige – keineswegs alle – sehen, dass sie da einen Fehler gemacht haben. Was mit diesen Akzentverschiebungen zumindest zum Teil im Zusammenhang stehen dürfte, ist die deutlich abnehmende Zahl von Morddrohungen und Schmähungen, die bei mir einlaufen. Davon habe ich einen ganzen Hefter voll. Natürlich ist inzwischen auch die nach 1990 noch sehr regsame Generation regelrechter Faschisten und hemmungsloser Antikommunisten, die von einem auch persönlichen Hass auf die DDR geprägt war, weitgehend abgetreten.

Wenn Sie nach drei Jahrzehnten Bilanz ziehen: Hätten Sie sich gewünscht, dass sich mehr ehemalige MfS-Mitarbeiter an solchen Initiativen wie Ihrer beteiligt hätten? Viele haben sich nach 1989 gänzlich ins Privatleben zurückgezogen.

Es wäre selbstverständlich besser gewesen, wenn wir mehr gewesen wären. Dass das nicht so war, hatte allerdings schwerwiegende Gründe. Was für viele SED-Mitglieder galt, galt auch für nicht wenige ehemalige Mitarbeiter des MfS: Die Niederlage von 1989 kam für sie gänzlich unerwartet und blieb unerklärlich. Oft hatte das den Rückzug ins Private zur Folge. Dazu kam in den ersten Jahren nach 1990 die Sorge über eine mögliche Verfolgung durch die Justiz und – vielleicht noch schwerwiegender – diese wirklich alltägliche öffentliche Denunziation des MfS. Viele waren aus Sorge um ihre Familien nicht bereit, sich öffentlich zu äußern. Und natürlich mussten alle, wenn sie nicht unmittelbar vor dem Eintritt ins Rentenalter standen, unter erschwerten Bedingungen beruflich neu anfangen. Es war also wirklich eine sehr schwierige Situation, in der wir uns damals zusammengesetzt und gesagt haben, wir müssen uns jetzt endlich einmal zu diesen unentwegt verbreiteten Lügen äußern.

Wolfgang Schmidt, geboren 1939 in Plauen, war im Ministerium für Staatssicherheit zuletzt Oberstleutnant und Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptabteilung XX