© Tageszeitung »neues deutschland«, 03.03.2017

Der letzte HVA-Chef Werner Großmann berichtete Peter Böhm recht offenherzig aus seinem Leben

Ein Lügenbaron mit Deckname »Kohle«

Von Helmut Müller-Enbergs

Auf einem Gehöft in Oberebenheit und sodann in Cunnersdorf in der Sächsischen Schweiz wuchs Werner Großmann auf. Der Vater war Zimmermann. So beginnt das Interview, in dem der ehemalige Leiter der Hauptverwaltung A (HVA) des MfS sein Leben Peter Böhme erzählt. Diese autobiografische Erzählung unterscheidet sich von den Erinnerungen, die Großmann vor bald zwei Jahrzehnten vorgelegt hat. Hinzugekommen sind neue Erfahrungen und Eindrücke, die der Überzeugungstäter, wie er sich selbst nennt, inzwischen gewann.

Großmann spricht von seiner Außenseiterrolle im Gymnasium von Pirna, aus der ihn die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend befreite, in der er Jungzugführer war: »Ich hatte was zu sagen und war nicht mehr nur der Junge vom Dorf. Bei mir funktionierte genau das, was die Nazis für unsere Generation geplant hatten: Gib ihnen Aufgaben, Funktionen, Herausforderungen, begeistere sie mit Abenteuer und Kampfsport.« Großmann spricht über seine schulischen Probleme und vom Geldmangel in seinem Elternhaus: »Mich haben weniger meine Mitschüler, sondern mehr die Umstände spüren lassen, dass ich eigentlich nicht dazu gehörte.« 1944 schloss die Schule, Großmann ging mit 15 ins Wehrertüchtigungslager und begab sich dann in die Schützengräben gegen die nahenden Russen. Nach dem Krieg fand er Arbeit bei einem Bauer, dann auf dem Bau. Schließlich bot ihm die Sowjetische Besatzungszone für seinesgleichen Perspektiven, die andernorts nicht zu erwarten waren; Studium an der Vorstudienanstalt der TU Dresden, wo er zum hauptamtlichen FDJ-Sekretär avancierte.

Eines Tages klopfte ein Mitarbeiter des Instituts für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung, wie sich der neu geschaffene Auslandsnachrichtendienst der jungen DDR nannte, bei ihm an. Nach seinem Eintritt in den operativen Dienst im Oktober 1953 war der Druck enorm, Quellen heranzuschaffen. Ein Jahr später schien Großmann ein famoser Fang gelungen. Er konnte den Reporter Kari-Heinz Kaerner {1920-2001} von der »Frankfurter illustrierten« als Geheimen Mitarbeiter »Kohle« verbuchen. Jener hatte ihm glaubhaft gemacht, über die Sekretärin Clairon d'Hausonville Zugang zu Unterlagen des ehemaligen Wehrmachts- und nunmehrigen Bundeswehrgenerals Hans Speidel zu besitzen. Tatsächlich lieferte Kaerner 1959 mit der Anweisung 126 »Operation DECO II« eine vorgeblich »geheime Bundessache« zur militärischen Einverleibung der DDR. Dieses Dokument wird noch heute in einigen Kreisen, auch unter ehemaligen HVA-Angehörigen, als der Beweis schlechthin für Angriffsabsichten der Bundeswehr auf die DDR gedeutet. Der seinerzeitige Coup jedenfalls dürfte maßgeblich den Aufstieg Großmanns innerhalb der HVA befördert haben.

»Ist >Kohle< nun echt oder nicht?«, fragte sich Großmann allerdings später. Er begann an seiner Quelle zu zweifeln. Immerhin war Kaerner NSDAP-Mitglied gewesen, hatte die Führerschule des Sicherheitsdienstes erfolgreich absolviert, war Ritterkreuzträger und SS-Untersturmführer, Am 27, März 1959 stellte Großmann einen Haftbeschluss für Kaerner aus. Begründung: »In der Zusammenarbeit mit dem MfS desinformierte er fortwährend.« Von März bis Juli 1959 befand sich der Journalist in MfS-Untersuchungshaft, wurde durch die Vernehmungsmühle gedreht, teils vier bis fünf Stunden lang. Dabei halfen die »Freunde«, sowjetische Ermittler. Es galt hinsichtlich DECO II zu klären, »a) inwieweit dieses Material echt ist, b) falls es sich um eine Desinformation handelt, welche Stellen und Institutionen an der Übermittlung dieser Desinformation an unsere Organe interessiert waren und von wem sie ausgearbeitet wurde«. Großmann analysierte akribisch die Vernehmungsprotokolle, seine Zweifel schmolzen. Denn Kaerner agierte klug. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Und für Großmann blieb »Kohle« ein wichtiger Kanal.

Dabei handelte es sich, was Großmann wusste, bei Kaerner um einen Hochstapler, der sich die abenteuerlichsten Geschichten ausdachte. 1949 hatte er sich z. B. bei der britischen Botschaft in Paris als Pilot von Martin Bormann ausgegeben. Er will diesen 1944 für gut sechs Monate geflogen und sich mit ihm im Juni 1949 in Spanisch-Marokko getroffen haben. Tatsächlich war der ehemalige Chef der NSDAP-Kanzlei in den letzten Kriegstagen 1945 in Berlin umgekommen. Kaerner behauptete gar zu wissen, dass Hitler in einem tibetanischen Kloster lebe. Mehrere Nachrichtendienste sind auf den »Lügenbaron« hereingefallen, nicht nur die HVA.

Im Gespräch mit Peter Böhm berichtet der inzwischen 88-jährige Geheimdienstmann Werner Großmann auch über sein schwieriges Verhältnis zu den beiden »Erichs«, Mielke und Honecker, Ein aufschlussreiches, offenherziges Buch.

Werner Großmann (mit Peter Böhm): Der Überzeugungstäter. Verlag Das Neue Berlin. 252 S. geb., 16,99 €