Gemeinsam auf Friedenswacht
Zur Arbeit der HA I in
der NVA und den Grenztruppen der
DDR
Unter dem Titel „Der Militärgeheimdienst der DDR“
hat der Autor einen Beitrag zur Versachlichung
der Darstellungen der geheimdienstlichen Abwehr-
und Aufklärungsaktivitäten von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, die in der Nationalen Volksarmee und den Grenztruppen der DDR in staatlichem Auftrag
zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit und der Staatsgrenze aktiv
waren, vorgelegt. Im Unterschied zu verschiedenen Publikationen, in denen auf der Grundlage vorgefundener (unvollständiger) Akten und Unterlagen viele Details mit dem Anspruch einer systematischen Gesamtschau über die Entstehung und
Entwicklung der Strukturen militärischer Abwehr sowie ihrer
Aufgaben seit 1945 auf dem Gebiet der DDR bis hin zu ihrer Abwicklung aufgelistet sind, lässt
sich der Autor von einer
anderen Zielstellung leiten.
Er thematisiert diese
Historie strikt eingebunden in die weltpolitischen Rahmenbedingungen und in Wechselwirkung mit ihnen an der
Nahtstelle zwischen zwei sich in
Konfrontation gegenüberstehenden politischen Weltsystemen und bewertet diese Aktivitäten als
einen notwendigen Beitrag zur Erhaltung und Gewährleistung des
Weltfriedens.
Im Sinne dieser hohen Verpflichtung wurde der Dienst durch
seine jeweiligen Leiter, die ihre vielfältigen Erfahrungen aus dem antifaschistischen Widerstand eingebracht haben, entscheidend
geprägt. Das wird für alle ehemaligen Leiter mit biographischen
Daten verdeutlicht.
Dabei geht es dem Autor um vertiefende Einblicke in die eigenständige Geschichte, die sich entwickelnden Strukturen, sich wandelnden spezifischen Aufgabenstellungen, in die laufende, den Arbeitsalltag bestimmende Arbeitsweise der einzelnen Mitarbeiter vor
Ort sowie das Zusammenwirken dieser
Hauptabteilung I des MfS
mit anderen Dienstbereichen
und weiteren militärischen Einrichtungen - bis hinein in die bewegten
Monate der gewaltfrei verlaufenen Abwicklung 1989/90.
In den Darlegungen spürt man
den sachkundigen Einblick des Autors in die tagtägliche spezifische geheimdienstliche Tätigkeit in
verschiedenen militärischen Strukturen der NVA
und insbesondere der Grenztruppen der
DDR. Deshalb hat er den Titel seines Buches nicht zufällig so gewählt und an Stelle eines Vorwortes eine biographische Skizze, wie ein junger Leutnant der Grenztruppen Anfang der 70er Jahre
Mitarbeiter der Militärabwehr in den Grenztruppen der DDR wurde, vorangestellt.
Mit Verweis auf zahlenmäßige Relationen zwischen der Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter der Abwehr und den Zahlen von Armeeangehörigen von
der Ebene General bis hin zu den Grundwehrdienstleistenden und Zivilbeschäftigten wendet
sich der Autor gegen die wiederholt verbreiteten Behauptungen von
einer totalen Überwachung der
Armeeangehörigen.
Tatsächlich ging es in dieser politisch-operativen Tätigkeit vor allem um Fragen und
Aspekte zur Sicherung der erforderlichen Gefechtsbereitschaft der
NVA
sowie der Staatsgrenze der DDR. Dazu
gehörten Sicherheitsüberprüfungen bei Tätigkeiten in bestimmten Bereichen
oder Funktionen ebenso wie die
Bearbeitung von Hinweisen, Anzeichen und erkennbaren Absichten für Handlungen gegen Sicherheit und Ordnung. Die über die unmittelbare Arbeit hinausreichende Zielsetzung war
dabei die vorbeugende Verhinderung von Verstößen gegen die Sicherheit der DDR sowie von Straftaten.
Auf die Gewinnung von
hauptamtlichen Mitarbeitern für die
Abwehrarbeit sowie auf ihre Einarbeitung, Schulung in
Spezialgebieten und regelmäßige Weiterbildungsmaßnahmen
wird ausführlicher im Kapitel „Operative und inoffizielle Mitarbeiter“ eingegangen. Bei der Schilderung ihres Arbeitsalltags werden
auch eine Reihe belastender Faktoren nicht ausgeklammert: Einsatzbereitschaft rund um die Uhr, Verschwiegenheit auch gegenüber der eigenen Familie, mitunter komplizierte materielle Arbeitsbedingungen, insgesamt also hohe physische und psychische
Anforderungen an jeden einzelnen
Mitarbeiter, denen nicht jeder dauerhaft gewachsen
war.
Einen entscheidenden Platz in der
politisch-operativen Arbeit nahm die Beschaffung der jeweils
erforderlichen sicherheitsrelevanten Informationen ein. Deshalb werden
die praktizierten Wege und
Methoden zur Erlangung solcher Informationen mit Hilfe von ehrenamtlichen
Unterstützern/Informanten ausführlicher beschrieben. Die Gewinnung dieser
Personen für eine aktive Mitwirkung, die regelmäßige Arbeit mit ihnen
war eine Schwerpunktaufgabe. Die
Größenordnung dieser
Aufgabenstellung wird an Hand einer
Reihe von Zahlenangaben, u. a. bezogen
auf ein Grenzregiment, dargestellt. Kritisch wird dabei
angemerkt, dass die Zusammenarbeit mit Informanten unter den
Grundwehrdienstleistenden nach deren
Rückkehr ins Zivilleben nicht systematisch fortgesetzt wurde.
Damit sich der Leser ein anschauliches Bild von der Arbeitsweise der hauptamtlichen Mitarbeiter machen
kann, werden verschiedene
Bearbeitungsverfahren für ganz unterschiedlich gelagerte reale Ereignisse lebensnah geschildert.
Als Hauptrichtungen der
Abwehrarbeit werden, unterlegt mit analytischen Ausführungen zu konkreten Fällen, herausgearbeitet: Spionageabwehr und
Sicherung des Geheimnisschutzes, Kampf gegen
Fahnenfluchten, Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung bei Technik und Bewaffnung sowie der Kampf gegen politisch-ideologische Diversion und politische Untergrundtätigkeit.
Die Abwehr- und Aufklärungsaktivitäten hatten
insbesondere bei der Sicherung der
Staatsgrenze einen hohen Stellenwert. Diese
Tätigkeiten wurden unter Beachtung der gebotenen Geheimhaltung arbeitsteilig durch verschiedene Diensteinheiten ausgeführt. Dass es dabei hin und wieder zu paralleler Bearbeitung und nicht
genügender Information kam, ließ sich nicht vermeiden, führte aber zu keinen schwerwiegenden
Konflikten.
Als Reaktion auf die seit
den 70er Jahren umfangreicher werdenden
Anforderungen an die Sicherung der Staatsgrenzen, u. a. durch eine zunehmende Reisetätigkeit von Ost
nach West und umgekehrt, einschließlich des
sich verstärkenden Transitverkehrs, vom Autor mit statistischen Daten unterlegt, wurde die neue Struktureinheit Grenzsicherung etabliert. Es zeigte sich aber bald ganz praktisch, dass daraus kein Nutzen für die
bis dahin geltenden Kompetenzen der Bereiche Abwehr und Aufklärung resultierte, so dass
die neuartige Struktureinheit wieder
aufgelöst wurde.
Wie in der Zeit zuvor gab
es weiterhin Grenzprovokationen, Angriffe von westlicher Seite auf Grenzanlagen und Angehörige der Grenztruppen sowie
versuchte und erfolgte Grenzdurchbrüche auch von westlicher Seite.
Der Druck auf die Grenze nahm in den 80er Jahren durch die
internationale Entwicklung und Veränderungen im inneren Leben der DDR spürbar zu. So erhöhte sich die Anzahl von sicherheitspolitisch zu
bearbeitenden Reise- und
Ausreiseanträgen. Wie sich das auf das bis dahin funktionierende
Grenzregime einschließlich der Grenzübergangsstellen in seiner gesamten Strukturiertheit auswirkte, wird an differenziertem Zahlenmaterial gut nachvollziehbar
aufgezeigt.
In dem Kapitel „Militärgeheimdienst der DDR vs. MAD der BRD“ befasst
sich der Autor de- taillierter mit dem
Militärischen Abschirmdienst der BRD.
Er macht darin deutlich, von welchen ehemaligen verantwortlichen Wehrmachtsoffizieren
dieser Geheimdienst in seinen
ersten Jahrzehnten geleitet
wurde. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Bemerkungen dazu, warum und wie die DDR-Seite über den MAD lange Zeit gut unterrichtet war. Das öffentliche
Bekanntwerden solcher und
anderer Peinlichkeiten offenbarte,
dass der MAD in Zusammenarbeit mit anderen, auch ausländischen Geheimdiensten nicht
zimperlich beim Bespitzeln von
Bürgern war. Hingewiesen sei in
diesem Zusammenhang auf die aktuell laufenden Initiativen zu gesetzlichen Regelungen, damit die deutschen Geheimdienste generell, ohne zusätzliche Hürden, auf die Inhalte von sozialen Internetmedien zu-
greifen dürfen.
Aufs Ganze gesehen
ergeben sich nicht nur für Fach-Interessierte an diesen Themen vertiefende facettenreiche Einblicke in einen aus
historischen Gründen vergangenen spezifischen Geheimdienst, zu dem eine Reihe von Fragen weiterhin offen sind und bleiben werden, eben weil es sich um einen „geheimen“ Dienst
handelte.
Dr. Siegfried Hegenbarth
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Horst Schumann: Der Militärgeheimdienst der DDR.
tredition 2020, 236 Seiten, 19,50 Euro, ISBN 978-3-347-15836-8