24.1113                                                                                                        E-Paper

© Tageszeitung »neues deutschland«

Leidenschaftlich »schizophren«

Die verschiedenen Rollen der HVA-Topagentin Johanna Olbrich alias »Sonja«

Alle reden über Günter Guillaume. Nur wenige kennen Johanna Olbrich (1926-2004), die als Sekretärin liberaler Spitzenpolitiker fast zwanzig Jahre lang erstklassige Informationen aus der FDP der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR lieferte. Das dürfte sich nun ändern, durch ihre posthum erschienenen spannenden Erinnerungen.

Sie war neunzehn, als der nationalsozialistische Staat seine Waffen streckte. An den hatte sie geglaubt. Sehr zum Groll ihres Vaters hatte sie sich im Bund Deutscher Mädel engagiert. Im Mai 1945 war es damit zu Ende. Sie orientierte sich schnell um, engagierte sich in der Sowjetischen Besatzungszone, setzte ihre Lehrerausbildung fort. 1946 trat sie der SED bei, die ihr einen rasanten Aufstieg ermöglichte. Sie wurde Referentin im Ministerium für Volksbildung, eine Rolle, die sie leidenschaftlich ausübte. Doch bald kam eine neue Aufgabe, eine neue Rolle auf sie zu. Sie sollte Agentin in der Bundesrepublik werden. Deckname »Sonja«.

Zunächst war daran gedacht, sie in der CDU arbeiten zu lassen. Doch dann entschied man in der Zentrale in Ostberlin, sie solle die Identität einer Frau annehmen, deren Weg in die DDR geführt hatte. In diese schlüpfte Johanna Olbrich 1967. Zunächst fand sie Arbeit als Versicherungsangestellte in Frankfurt am Main und in Hamburg. Dann legten ihr die Genossen in Ostberlin nahe, sich als Sekretärin bei einem Bundestagsabgeordneten zu bewerben. Das klappte.

Sie wurde die rechte Hand von William Borm, der - das ahnte sie nicht - für die HVA als Agent »Olaf« tätig war. Nach dessen Ausscheiden aus dem Bundestag übernahm sie die FDP-Zentrale als Sekretärin des Generalsekretärs Hermann Flach. Damit hatte die HVA eine Spitzenquelle in einer Regierungspartei. Bis 1985. Später war Johanna Olbrich bei Martin Bangemann, bei dem sie auch blieb, als er ins Europa-Parlament wechselte und dann Bundesminister für Wirtschaft und Technologie wurde. Bergeweise landeten in Ostberlin Protokolle aus der FDP-Fraktion im Bundestag, aus Spitzengremien der Liberalen. Insgesamt 492 Informationen von 1969 bis 1985, darunter allein 394 Fotokopien, die - das war bei der HVA üblich - Schulnoten erhielten. Drei Mal gab es das Prädikat »sehr wertvoll«. Damit hält Johanna Olbrich den ersten Platz im Ranking der HVA-Agenten in der FDP. Nach ihr platzierte sich der Westberliner Journalist »Auto«, dem sodann ihr Mentor William Borm mit 345 Informationen folgt.

Ihre Agentenkarriere endete im Juli 1985, als sie nach einem Besuch in der DDR versehentlich einen gefälschten Pass mit Lichtbild in einem Taxi in Rom liegen ließ. Ostberlin rief sie nach kurzer Bedenkzeit zurück. Welche Rolle erhielt sie nun? Darüber schweigt sie in ihren Erinnerungen; diese Zeit überspringt sie. Nach der Herbstrevolution 1989 blieb sie ihren sozialistischen Überzeugungen treu und engagierte sich in der PDS in Bemau, wohin sie inzwischen übergesiedelt war. Wenn Markus Wolf auf Lesereise war, futterte sie seine Katzen.

Die Erinnerungen von Johanna Olbrich, aufgeschrieben von Frank Schumann und Günter Ebert und von ihr noch autorisiert, bestechen durch Nüchternheit. Nur an wenigen Stellen lässt sie den Leser in ihre Gefühlswelt blicken - dezent. Sie hätte gern einen Mann geliebt, was ihr als »Kundschafterin für den Frieden« indes untersagt blieb. Möglicherweise hätte sie in einer Beziehung ihre Agententätigkeit offenbart, mutmaßt sie. Deshalb wahrte sie stets eine relative Distanz auch zu Menschen, die ihr sympathisch waren. Ihre diversen Rollen - leidenschaftliche Sekretärin von Bangemann und leidenschaftliche Agentin - nennt sie »schizophren«.

Es gibt bereits einen Lexikoneintrag zu ihr. Gewiss bald auch einen Film. Die Biografie mit dem zutreffenden "Titel »Die Topagentin« mag dafür eine ausgezeichnete Grundlage sein.

Helmut Müller-Enbergs