Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.2001, Nr. 158 / Seite 43

Republik freies Aktenland

Marianne Birthlers Staat im Staat

Von Michael Kleine-Cosack

 

Der Rechtsstaat scheint nach wie vor auf verlorenem Posten zu stehen, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit des untergegangenen DDR-Regimes geht. Zahlreiche Attacken haben ihm nach 1989 Wunden geschlagen, von denen er sich bis heute kaum erholt hat. Zahllose bis zur Wende eigentlich selbstverständliche Errungenschaften der durch das Grundgesetz konstituierten rechtsstaatlichen Ordnung schienen im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung vorübergehend außer Kraft gesetzt worden zu sein. Erinnert sei nur an die Säuberung des öffentlichen Dienstes, an die Eingriffe in das Rentensystem bei Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die Überdehnung des Rechtsbeugungstatbestandes zu Lasten von Richtern und Staatsanwälten der DDR, die Einschränkung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots und die vom Bundesverfassungsgericht weitgehend für unzulässig erklärten Berufsverbote gegen Rechtsanwälte und Notare. Als besonderer Pfahl im Fleische des Rechtsstaats hat sich die nach dem früheren Bundesbeauftragten benannte Gauck-Behörde erwiesen.

Für ihre Leiterin und deren Anhänger - vor allem bei Bündnis 90/Die Grünen und der schon seit 1990 zur Bedeutungslosigkeit verdammten Bürgerrechtsbewegung - soll auch im Jahre 2001 offenbar noch ein rechtsstaatsfreier Sonderstatus gelten. Der Streit zwischen Birthler und Bundesinnenminister Otto Schily erweckt den Eindruck, daß die Birthler-Behörde die einzige deutsche Behörde ist, die mit Unterstützung der Politik frei von gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Bindungen agieren darf. Auf dem Altar der Aufarbeitung des MfS wird der Rechtsstaat geopfert. Schon Hinweise auf eigentlich selbstverständliche Bindungen an Gesetz und Recht werden von den Anhängern der Aufarbeitung empört zurückgewiesen. Statt objektiv und vor allem rechtsstaatlich zu argumentieren, wird von einer "Demütigung" der Bundesbeauftragten durch den herzlosen Innenminister gesprochen, der sich - so Rezzo Schlauch - wie ein Schulmeister gegenüber einem Schulmädchen verhalte.

 

Keine Gleichheit im Unrecht

 

Man muß sich verwundert die Augen reiben, mit welchen Argumenten nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin die Gauck-Behörde und ihre Sympathisanten in Presse und Politik die bisherige Publikationspraxis verteidigen und die Bundesbeauftragte in ihrem Bestreben unterstützen, sie entgegen der Aufforderung von Schily fortzusetzen. Dieses Verhalten ist bereits deshalb unverständlich, weil die von Frau Birthler geleitete Behörde die umstrittene Praxis eigentlich schon vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts hätte einstellen müssen - bis zu einer höchstrichterlichen Klärung. Schließlich kam die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht aus heiterem Himmel. Überrascht sein konnte nur, wer, wie Joachim Gauck, die von kompetenter Seite bis hin zum früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, geübte Kritik an der Publikationspraxis beharrlich nicht zur Kenntnis nahm. Sie wurde ebenso negiert wie Entscheidungen anderer Gerichte, die eine Herausgabe von Akten für unzulässig erklärten. Als Beispiel sei nur auf das Urteil des Landgerichts Kiel im Fall Engholm verwiesen; es beanstandete die Herausgabe der Akten an den Barschel-Untersuchungsausschuß. Die im Vorfeld des Kohl-Verfahrens geäußerten Bedenken waren auch entscheidend für die Haltung des Deutschen Bundestages, auf die Herausgabe der von Gauck bereitwillig angebotenen Akten im Parteispendenuntersuchungsausschuß zu verzichten, da sie unter massiver Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Helmut Kohl zustande gekommen waren.

All diese Bedenken haben die Gauck-Behörde unbeeindruckt gelassen. So läuft der Deutsche Bundestag Gefahr, daß sein Beschluß gegen die Anforderung der Akten kurzerhand unterlaufen wird durch deren Herausgabe an Journalisten oder Historiker. Ungeachtet aller Bedenken setzte die Gauck-Behörde ihre Publikationspraxis fort. Eines ihrer zentralen Argumente vor dem Verwaltungsgericht im Fall Kohl war tatsächlich der Hinweis, man habe schließlich schon seit Jahren Akten von Prominenten publiziert; daher könne es doch auch bei Kohl kein Unrecht sein. So konnte in der Tat zum Beispiel der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt den Inhalt seiner Opferakte der Zeitung entnehmen. Was aber in der Vergangenheit nicht beanstandet worden war, konnte nach Ansicht der Bundesbeauftragten doch nunmehr nicht rechtswidrig sein.

Welch ein getrübtes Rechtsstaatsbewußtsein kommt in dieser Haltung zum Ausdruck. Allen Ernstes wird dafür plädiert, den im Grundgesetz statuierten Vorrang des Gesetzes, der alle staatlichen Behörden bindet, zugunsten eines rechtsstaatsfremden Prinzips der Tradition zu mißachten. Die Gauck-Behörde nimmt für sich das Recht in Anspruch, durch eine gesetzwidrige Praxis geltendes Recht außer Kraft zu setzen. Dabei lernt ein Student der Rechtswissenschaften bereits im ersten Semester, daß es keine Gleichheit im Unrecht gibt; nicht einmal durch eine langjährige Mißachtung kann man Gesetze "aushebeln".

Aus dem gleichen Grund völlig verfehlt ist das von den Verteidigern der Birthler-Praxis angeführte Argument, was man den Ostdeutschen - wie eben Höppner - angetan habe, müßten nun auch Westdeutsche erdulden. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes mit seiner Bindung an das für jedermann geltende Gesetz aber verbietet schon grundsätzlich jede Differenzierung nach Heimat und Herkunft. Im übrigen hat Katarina Witt, die ehemalige "Eiskönigin" der DDR, mit ihrer Klage gegen die Gauck-Behörde dem Versuch den Boden entzogen, die Publikationspraxis mit dem politisch vordergründigen Argument zu rechtfertigen, der Westdeutsche Kohl müsse ebenso wie die Ostdeutschen behandelt werden. Katarina Witt stammt aus dem Osten und ist dennoch nicht an der Publikation ihrer Opferakte interessiert; das hat die Öffentlichkeit zu respektieren.

Auch für die Gauck-Behörde müssen die Grundrechtsmaßstäbe gelten, die vor allem vom Bundesverfassungsgericht bei anderen Personen der Zeitgeschichte nach Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Presse- beziehungsweise Wissenschaftsfreiheit aufgestellt worden sind. Es ist kein sachlicher Grund zu erkennen, einerseits bei einer Prominenten wie Caroline von Monaco im Hinblick auf hinzunehmende Eingriffe in die Privatsphäre genau zu differenzieren, ob sie von Paparazzi mit ihrem Ehemann auf der Straße, in einem Gartenlokal oder gar im Bett "erwischt" wird, hingegen bei Eingriffen des MfS nahezu jeden Persönlichkeitsschutz zu verweigern. Die in diese Richtung gehende Argumentation von Gauck, man habe beim Stasi-Unterlagengesetz die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen nicht derart "hoch hängen" können, daß der Aufklärungserfolg gefährdet worden wäre, ist rechtsstaatlich ebenso abwegig wie sein Diskreditierungsversuch, Kohl habe sich mit seiner Klage "praktisch mit der PDS verbündet".

Hätte also die Gauck-Behörde angesichts der massiven Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit ihrer Publikationspraxis diese eigentlich schon vor Verkündung des Urteils des Berliner Verwaltungsgerichts einstellen müssen, so gilt dies erst recht, nachdem die Berliner Richter sie für rechtswidrig erklärt haben. Gewiß ist das Urteil noch nicht rechtskräftig; es kann noch mit Rechtsmitteln angefochten werden. Keine andere Behörde in Deutschland jedoch würde wie Frau Birthler auf den Gedanken kommen, deshalb die bisherige Behördenpraxis nicht zunächst bis zur Rechtskraft der Entscheidung zu ändern, wie es Otto Schily jetzt zu Recht fordert. Denn wird schließlich das erstinstanzliche Urteil höchstrichterlich bestätigt, dann erweist sich die Fortsetzung der Praxis in anderen Fällen ebenfalls als rechtswidrig. Dieses Risiko gehen rechtsstaatsbewußte Behörden nicht ein, zumal sie Gefahr laufen, sich der Rechtsbeugung schuldig zu machen. Diese Maxime will die Bundesbeauftragte für ihr Haus nicht gelten lassen. Sie nimmt ungeniert weitere mögliche Rechtsbrüche in Kauf. Überspitzt formuliert: Hätte man der Behörde nach 1990 zur Vergangenheitsbewältigung eine Guillotine zur Verfügung gestellt, dann würden bei Frau Birthler zumindest bis zur höchstrichterlichen Bestätigung der Verfassungswidrigkeit dieser Praxis auch weiterhin die Köpfe rollen.

In dem durch Uneinsichtigkeit geprägten rechtsstaatlichen Bocksgesang findet sich auch das Argument der Bundesbeauftragten, das Berliner Verwaltungsgericht habe nur den Fall Kohl, nicht aber über die Rechtmäßigkeit der Aktenpublikation bei anderen Personen entschieden. In der Tat wirkt die Entscheidung des Gerichts nur inter partes, also zwischen den Beteiligten des Verfahrens; eine unmittelbare rechtliche Bedeutung für Dritte kommt ihm nicht zu. Auch dieses Argument rechtfertigt jedoch nicht die Fortsetzung einer möglicherweise rechtswidrigen Behördenpraxis: Schließlich kennt die Rechtsordnung nur wenige Fälle, in denen mit Wirkung für jedermann entschieden wird; im Regelfall wird über die Rechtmäßigkeit einer Behördenpraxis nur inzidenter im Rahmen von Einzelfällen entschieden. Es steht aber bei rechtsstaatlich orientierten Behörden außer Frage, daß Entscheidungen im Einzelfall zum Anlaß genommen werden, die von einem Gericht beanstandete Praxis allgemein zu ändern.

 

Blinde Publikationswut

 

Birthler steht mit ihrer gegenteiligen Ansicht auf verlorenem Posten. Ihr Wille, trotz der Bedenken des Verwaltungsgerichts weiterzumachen wie bisher, zwingt andere von Publikationen der Gauck-Behörde betroffene prominente Opfer wie Katarina Witt, ebenfalls den Rechtsweg zu beschreiten. Nur wer sich wehrt, bekommt - oder genauer: behält sein Recht. Wer, wie dies Bürger üblicherweise in einem Rechtsstaat tun dürfen, auf die Beachtung von Gesetz und Recht von Amts wegen vertraut, der ist bei der Sonderbehörde der Bundesbeauftragten verraten und verkauft. Sie läßt die Bürger im rechtsstaatlichen Regen stehen und zwingt sie vor Gericht. Anstatt Prozesse zu vermeiden, werden die Gerichte mit Verfahren belastet.

Eine höchstrichterliche Klärung der Rechtslage ist unverzichtbar. Dem in der Vergangenheit praktizierten Grundrechtsleerlauf bei der Publikation von Akten des MfS muß endlich ein rechtsstaatlicher Riegel vorgeschoben werden. Den Grundrechten - insbesondere dem verfassungsrechtlich verbürgten Persönlichkeitsrecht - ist auch im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung Rechnung zu tragen. Es darf nicht sein, daß die durch rechtsstaatswidrige Bespitzelung des MfS ohnehin in ihrem Persönlichkeitsrecht beschädigten Opfer durch die rechtsblinde Publikationswut der Gauck-Behörde weitere Rechtseingriffe hinnehmen müssen. Der Bundesbeauftragten ist es ohnehin zumutbar, entsprechend der üblichen Behördenpraxis in vergleichbaren Fällen bis zur letztinstanzlichen Entscheidung abzuwarten. Von ihren Publikationen sind schließlich keine nennenswerten neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten. Die letzten Jahre haben bis in die jüngste Zeit immer wieder deutlich gezeigt, daß allenfalls noch mit weiteren Bloßstellungen und Denunziationen zu rechnen ist. Die Reputation der Gauck-Behörde beruht vorrangig auf einer Dämonisierung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Der damit verbundenen Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien muß endlich ein Ende bereitet werden, indem auch im Hause von Frau Birthler mit Schilys Hilfe das Grundgesetz vom Kopf auf die Füße gestellt wird.

 


Der Autor ist Rechtsanwalt in Freiburg/Breisgau.