ND vom 14.02.03
Das Neueste
aus der Stasi-Horror-Schau - und niemand fragt nach
Von Peter Kirschey
Ein
wilde Stasi-Horror-Geschichte geistert seit Tagen durch eine nicht
ganz kleine Berliner Tageszeitung und verdrängte sogar den drohenden Irak-Krieg
oder die Berlinale von den Spitzenplätzen. Andere Zeitungen ziehen nach,
Agenturen tragen die Story in die Breite. Ein Wanja Götz hat sich zu Wort
gemeldet und sein geheimstes Wissen preisgegeben. Und er weiß Grauenhaftes über
den verflossenen DDR-Geheimdienst zu berichten: Das Ministerium für
Staatssicherheit (MfS) der DDR habe mit Kinderpornografie einflussreiche
Persönlichkeiten in Westeuropa erpresst, weiß Götz. »Zu den Erpressten gehören
Politiker, Richter und Industrielle, von denen einige nach wie vor Einfluss in
den westlichen Demokratien haben.« Die Kinder dafür habe sich der DDR‑Geheimdienst
aus Heimen geholt. Eidesstattlich erklärte er dies gegenüber besagter Zeitung,
die als Mottenpost schon so manch faules Ei ausbrütete. Und dann gleich der
nächste Hieb: Auch der belgische Kinderschänder Marc Dutroux habe zeitweise im
Auftrag der Stasi gearbeitet, hat die Zeitung herausgefunden. Die geheimen
Dinge seien deshalb so geheim, weil nur der amerikanische Geheimdienst CIA die
Stasi-Akten kennt - und Götz, müsste hinzugefügt werden, denn der
weiß offensichtlich mehr, als alle Geheimdienste zusammen. Der Mann Götz
bezeichnet sich selbst als Verbindungsoffizier zwischen MfS und dem
sowjetischen Geheimdienst KGB mit Decknamen »Grigori«. Und keiner fragt nach. Was
ist das für einer, der sein Wissen über miese Straftaten 13 Jahre lang
versteckt gehalten und somit Täter gedeckt hat? Im Zentrum der Enthüllungen:
Rainer Wolf, Vater des 1993 verschwundenen 12-jährigen Manuel Schadewald.
So will »Grigori« erfahren haben, dass Wolf, nachdem er in den Westen gegangen
war, im Auftrag der Auslandsspionage des MfS Westeuropäer mit Kinderpornografie
erpresst habe. Was bedeutet es schon, wenn der Vater selbst erklärt, er sei nie
für das MfS als ProfiUnterwelts-Pornograf tätig gewesen und habe auch
sonst nichts mit dem DDR-Geheimdienst am Hut gehabt. Und noch eine Frage
sei gestattet: Wenn also die Stasi einflussreiche Persönlichkeiten mit
Kinderpornografie erpresst haben soll, dann müsste es doch einflussreiche
Persönlichkeiten gegeben haben oder noch geben, die Kinderpornografie
betreiben. Sind die kriminellen Kinderschänder nun die Opfer der Stasi?
Verkehrte Welt. Keine Beachtung hingegen findet in besagter Zeitung oder bei
den anderen Medien eine Pressemitteilung der Bundesbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik vom 10. Februar: »Aufgrund vielfacher Anfragen teile
ich mit: Berichterstattung "Kinderpornographie: Stasi erpresste
Politiker" ist mit MfS-Unterlagen nicht zu belegen. Mehrere
Zeitungen und Agenturen berichteten heute unter Berufung auf einen Wanja Götz,
das MfS habe westliche Politiker und einflussreiche Persönlichkeiten mit
Kinderpornographie erpresst. Dazu wird Bezug genommen auf Rainer Wolf, den
Vater des noch immer vermissten Manuel S. Zudem wird ein Zusammenhang mit dem
belgischen Fall Dutroux konstruiert. Die Bundesbeauftragte weist darauf hin,
dass derartige Vermutungen nicht aus ihrem Hause stammen und ihr auch keinerlei
Erkenntnisse vorliegen, die solche Behauptungen stützen.« Die Behörde dürfte
außerhalb des Verdachtes stehen, von der Stasi gekauft worden zu sein. Auch
beim Landeskriminalamt steht man den eidesstattlichen Erklärungen des Herrn
»Grigori« skeptisch gegenüber. Was bringen Erklärungen ohne die Spur eines
Beweises? Es werden nach Aussagen des LKA Zusammenhänge konstruiert, die so
nicht existieren. Da wird vermengt, vermischt, um der Angelegenheit eine ganz
bestimmte Richtung zu geben. So ist der Fall des 1994 missbrauchten und
ermordeten, damals 8-jährigen Daniel Bayer aus Prenzlauer Berg
aufgeklärt, ein Beweis für einen Zusammenhang mit anderen Fällen gibt es nicht.
Dennoch ermittelt die Polizei in alle Richtungen, wenn neue Erkenntnisse
vorliegen. Und man werde auch die Erklärung von »Grigori« gründlich prüfen.
Alle vier in der bewussten Zeitung aufgeführten Fälle von ermordeten oder
verschwundenen Berliner Jungen stammen aus den Jahren 1993 und 1997. Also aus
einer Zeit, wo das MfS schon lange Geschichte war. Doch das stört die Story-Schreiber
wenig, Hauptsache, man hat wieder einmal die Haut zum Gänseln gebracht. Das
entscheidende für die Macher der Story ist das Gerücht, die Spekulation und
Denunziation. Was macht es schon, wenn die Wahrheit dabei auf der Strecke
bleibt.