junge Welt

15.01.2010/Thema/Seite 10

Vom Haß zur Lüge

Die Birthler-Behörde und die ehemalige DDR-Opposition verteufeln das MfS, Beweise für kriminelle Handlungen können sie kaum liefern. Wahrheit und Sachlichkeit ist erforderlich.

Herbert Kierstein und Gotthold Schramm

Heute vor 20 Jahren wurden einem Aufruf des »Neuen Forum« folgend Teile der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin besetzt. Inzwischen ist bestätigt, daß mit den Bürgerrechtlern auch beauftragte Agenten des BND und der CIA ihre Chance wahrgenommen hatten.

In der Erinnerungsschlacht um die DDR spielt das MfS noch immer eine herausragende Rolle. Statt einer kritischen, auf Tatsachen und Beweisen beruhenden Aufarbeitung wurden Verdächtigungen und Lügen zur Grundlage für das vom Zeitgeist gezeichnete Geschichtsbild - auch 20 Jahre danach.

Von den Forderungen und Vorschlägen der Vertreter der Opposition aus den letzten Jahren der DDR für Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse ist nach der deutschen Einheit manches unerfüllt geblieben. So ist der Aufschrei zur Umwandlung von Schwertern in Pflugscharen verstummt, die Forderung zur Abschaffung aller Geheimdienste ist der Unterscheidung zwischen denen in Diktaturen und denen in Demokratien, die selbstverständlich unter parlamentarischer Kontrolle stehen, gewichen, und der geforderten Beseitigung des Abhörens von Gesprächen mittels Wanzen und Telefonüberwachung ist in potenzierter Form das Abhören von Gesprächen durch Staat und Konzerne gefolgt.

Die Beurteilung der DDR durch jene Vertreter, die einst mehr Demokratie und mehr Freiheit in der DDR und gesellschaftliche Veränderungen in der BRD gefordert hatten, ist heute deckungsgleich mit den Kräften, die von der ersten Stunde der DDR an deren Beseitigung verlangten und diese aktiv betrieben haben. Der DDR und ihren Exponenten wird der erste Versuch einer sozialistischen und alternativen Entwicklung in Deutschland weder vergessen noch verziehen. Auch 20 Jahre nach der DDR nicht.

Gegen das MfS wird die Speerspitze gerichtet. Es gehörte zu jenen Institutionen, die sich den Plänen reaktionärer Kräfte der BRD und ihren Geheimdiensten aktiv entgegenstellten und diese in nicht wenigen Fällen verhinderten. Delegitimierung und Verdammung der DDR wird wesentlich davon bestimmt. Zwischen den Vertretern der ehemaligen Opposition und den dunklen Kräften der BRD-Vergangenheit gibt es in der generellen Beurteilung der DDR keinen Unterschied mehr.

Der Weg des zivilisierten Umgangs miteinander, eine möglichst sachliche Bewertung der Vergangenheit, wie sich das Anfang der 90er Jahre andeutete, ist längst verlassen. Dem Streben nach Wahrheit und Versöhnung ist eine zunehmende Vergiftung der gesellschaftlichen Atmosphäre auf der Grundlage von Haß gegen alles, was die DDR auch nur ansatzweise positiv darstellt, gefolgt. Widerspruch wird weder geduldet noch ertragen, Tendenzen einer angeheizten Pogromstimmung sind festzustellen, Lügen und Verleumdungen sind Bestandteil dieses Feldzuges.

Nazi- und Kriegsverbrecher

Zu den über die Tätigkeit des MfS in die Welt gesetzten Behauptungen gehört auch jene Ungeheuerlichkeit, das MfS habe Hunderte Nazi- und Kriegsverbrecher gedeckt und für operative oder politische Ziele in Reserve gehalten. Sogar Vorwürfe, das MfS bediente sich strammer Nazis im »Foltergeschäft«, haben heute noch Konjunktur.

Überzeugend hat dies 2002 der niederländische Strafrechtler Christiaan Frederik Rüter von der Universität Amsterdam in der Studie »DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen« widerlegt. Darin bescheinigt er der DDR, schnellerund konsequenter als die BRD die Aufarbeitung von Nazi- und Kriegsverbrechen durchgeführt zu haben.

Zum »Täterschutz« durch das MfS führte er aus: »Nun wird aber seit Jahren erzählt, das MfS habe nicht einzelne, sondern Hunderte verurteilungsfähige NS-Verbrecher der Strafverfolgung entzogen. (...) Auch ich bin bei den 40 Behörden, vom Bundesministerium für Justiz über die Gauck-Behörde bis zum letzten Landesarchiv, die ich bei meiner Arbeit bemüht habe, nicht auf sie gestoßen. (...) Und die Staatsanwälte der Zentralen Stelle, die immerhin jahrelang die Archive des MfS durchforscht haben, haben sie ebenso  wenig zutage fördern können. (...) Niemand von diesen Hunderten ist nach 1990, als alles anders und besser gemacht werden sollte, vor Gericht erschienen. (...) All dies müßte, so würde man meinen, doch einigen Leuten aufgefallen sein. Aber die Reservoir-These erfreut sich nach wie vor breiter Beliebtheit.«

Drei Jahre nach der Vorstellung dieser international stark beachteten Studie, 2005, lud die Pressestelle der Birthler-Behörde (BStU) zur Präsentation des Buches »NS-Verbrechen und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR«. Autor ist Henry Leide, ein von der BStU bezahlter Mitarbeiter. »Die vorliegende Studie (...) belegt, daß Hunderte Personen von Ermittlungen und Strafen verschont blieben, obwohl dem MfS in vielen Fällen konkrete Anhaltspunkte für eine Beteiligung an Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorlagen«, erklärte Pressesprecher Christian Booß. Da waren sie wieder, die Heerscharen von NS-Tätern, die Rüter jedoch in 40 Archiven - auch dem der BStU - nicht hatte finden können. Die »Täter« Horst Busse (Staatsanwalt), Dr. Hans-Herbert Nehmer (Richter) und Dieter Skiba (Untersuchungsorgan des MfS) analysierten 2007 Leides Werk in ihrer Streitschrift »Anti-Leide« akribisch. »Das ganze Palaver zum Kern des Themas ist im Ergebnis pure Dichtkunst«, urteilen sie am Ende. Die der Meinungsfreiheit »verpflichteten« Medien nahmen auch dies nicht zur Kenntnis.

Mord- und Killerkommandos

Der international bekannte Jurist Otto Kirchheimer stellte 1965 in seinem Standardwerk »Politische Justiz« fest: »Vielerlei läßt sich in politischen Konflikten mit einem Kriminalprozeß anfangen (...). Es gibt kaum eine Gattung krimineller Delikte, die banalsten und außergewöhnlichsten nicht ausgenommen, die man nicht benutzen könnte, politische Leidenschaften zu entfachen. Höchst dramatisch läßt sich die Aufführung gestalten, wenn die Anklage auf Mord lautet (...) und der Angeklagte ein prominenter Vertreter der Gegenpartei ists« Dem entspricht das Vorgehen gegen das MfS: Anfang Juni 1992 wurde der ehemalige Leiter einer Hauptabteilung des MfS, Dr. Karli Coburger, verhaftet. Mit dem Vorwurf, daß in seiner Diensteinheit ein Auftragsmordkommando bestanden haben soll, schien endlich ein propagandistisch auswertbares und abscheuliches Verbrechen gefunden worden zu sein. Der Berliner Kurier erschien am Folgetag mit zentimeterdicken Lettern: "Chef der Stasikiller festgenommen. (...) Das MfS unterhielt im Westen eine Killertruppe von 21 Kriminellen. Aus Statistiken geht hervor, daß sie 500 Aufträge erledigt hat. Das MfS zahlte dafür rund zwei Millionen Mark«. Ähnliche Veröffentlichungen erschienen auch in anderen Medien.

Die Mordanklage wurde zum Flop. Die Beweiserhebung bestätigte weder die Existenz eines Auftragskommandos noch Belege für versuchte oder begangene Morde. Coburger wurde freigesprochen. Einen ähnlichen Verlauf nahm das Verfahren gegen den stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, Dr. Gerhard Neiber, dem Morde im Zusammenhang mit einer angeblichen Unterstützung der RAF unterstellt wurden. Auch er mußte freigesprochen werden.

Morde und immer wieder Morde durch das MfS, so die angebliche Ermordung von Detlev Karsten Rohwedder, dem ersten Präsidenten der Treuhandanstalt, durch »Stasiseilschaften« in der RAF; die ungeheuerliche Behauptung der Berliner Morgenpost, daß 2500 Häftlinge ermordet und »Tausende« in den Selbstmord getrieben worden sind; der Verdacht, daß die 1999 auf dem Städtischen Friedhof in Berlin-Hohenschönhausen gefundenen Überreste von 132 Menschen aus dem Untersuchungsgefängnis des MfS stammen, und - viele andere Beispiele.

Einen Höhepunkt dieser Lügen- und Verleumdungskampagne stellte im Herbst 2003 die Festnahme eines braven Hausmeisters aus Rheinsberg dar, der als »Chef eines Killerkommandos« 27 Auftragsmorde durchgeführt haben sollte. Deren Opfer waren angeblich der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, der DDR-Fußballnationalspieler Lutz Eigendorf, der sich 1979 in die BRD abgesetzt hatte, und der ehemalige Finanzminister der DDR, Siegfried Böhm. Im Dezember mußte der Haftbefehl aufgehoben werden, von den Morden und den Aufträgen hierzu war nichts übriggeblieben. Die Strafverfolgungsbehörden der BRD waren einem Gauner aufgesessen. Ein Beispiel dafür, wozu Voreingenommenheit und Verblendung führen können.

Der Tod des ehemaligen BFC-Berlin-Fußballers Lutz Eigendorf war 20 Jahre danach, im »Jubiläumsjahr« 2009, Gegenstand erneuter Hetze und Verleumdung. In seinem ehemaligen Wohnort Gießen wurde hierzu eine regelrechte Kampagne entfacht. Angeblich seien 30 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) in die »Bearbeitung« Eigendorfs einbezogen gewesen, eine Gruppe von Mitarbeitern des MfS habe den Vorgang geführt. Aber nach 20 Jahren gibt es noch keinen einzigen Beweis für den »Mord« - obwohl alle angeblich Beteiligten und alle Materialien zur Beweisführung zur Verfügung standen.

Märchen aus Hohenschönhausen

Ein Vergleich der Selbstdarstellung der »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen« im Internet mit der dort täglich geübten Praxis offenbart Widersprüche und gibt Aufschluß über ihre tatsächliche Rolle als ein Zentrum im staatlich organisierten und finanzierten Netzwerk zur Delegitimierung der DDR. Die »Gedenkstätte« beschäftigt »Zeitzeugen«, von denen mehr als die Hälfte niemals in Hohenschönhausen inhaftiert waren. Ihre Aufgabe ist es, den überwiegend organisierten Besuchergruppen ein nachhaltiges Bild von angeblich durch das MfS begangenen Grausamkeiten zu vermitteln.

Was geschieht genauer in dieser »Gedenkstätte«, in der von 1945 bis 1951 die Haftanstalt des sowjetischen NKWD und danach die Untersuchungshaftanstalt des MfS untergebracht war? Die »Zeitzeugen« unterscheiden nicht zwischen diesen beiden Diensten. Sie übertragen Behauptungen über Verstöße gegen die Menschlichkeit durch sowjetische Organe ohne jede Abgrenzung vom MfS. Sie verharmlosen die faschistische Diktatur und ihre Verbrechen, indem sie diese mit dem Vorgehen des MfS gleichsetzen. Der »Zeitzeuge« Siegmar Faust behauptet sogar, daß die Vernehmungsmethoden der Gestapo humaner waren als die des MfS. Die »Zeitzeugen« stellen Untersuchungsmethoden und Vorgehensweisen des MfS dar, die auf »Hörensagen« beruhen und durch praktische Vorgänge und Beispiele nicht zu beweisen sind. Und sie fälschen Zahlen mit dem Ziel der Diffamierung des MfS und stellen Sachverhalte und Umstände so dar, daß sie mit der Wahrheit nichts zu tun haben. Dies ist durch Berichte von Besuchern belegbar.

Um behaupten zu können, es wäre im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen Wasserfolter praktiziert worden, wurden entsprechende Zellen »rekonstruiert«, deren Anblick allein ausreicht, um Besuchern einen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Von den »Zeitzeugen« wird die »Wasserfolter« wie folgt dargestellt: tagelanges Stehen im Wasser, eimerweises Übergießen und tagelanges gleichmäßiges Tropfen auf den Körper, vorwiegend den Kopf.

Rückfragen nach Zeugen oder anderen Belegen für die Nutzungszeit durch das .MfS wurden durch »Zeitzeugen« der Gedenkstätte im Verlauf der Zeit unterschiedlich beantwortet. 2003 hieß es: Der Bau der Zellen erfolgte nach Angaben eines Häftlings, der 1947 als Gefangener des NKWD zum Bau der »Originalzellen« eingesetzt worden war. Namen von Folteropfern wurden nicht genannt. Zwei Jahre später lautete die Auskunft nur noch: Zeitzeugen haben wir bisher nicht gefunden, wahrscheinlich hat diese martialische Folter niemand überlebt. Neuerlich werden Namen von Personen genannt, die dazu publiziert haben sollen. Nachforschungen hierzu erbrachten nur in einem einzigen Fall dubiose Aussagen vom Hörensagen, deren Beschreibung mit der Realität  in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Übrig bleibt: Es handelt sich um nicht zu beweisende Behauptungen und Lügen.

Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung der radioaktiven Verstrahlung. 1989 hatten Vertreter eines Bürgerkomitees bei der Besichtigung der Untersuchungshaftanstalt in der Bezirksverwaltung Gera des MfS ein Röntgengerät wahrgenommen, mit dem verdächtige Postsendungen und andere Gegenstände untersucht worden sind. Solche Geräte waren an Grenzübergängen, beim Zoll, in Auslandsvertretungen und anderswo im Einsatz. Im weiteren Verlauf wurde behauptet, daß die beiden später an einer tückischen Krebskrankheit verstorbenen Häftlinge Jürgen Fuchs und Rudolf Bahro mit solchen Geräten bestrahlt worden seien. Expertisen bundesdeutscher Institute ergaben, daß diese Geräte für eine Schädigung der menschlichen Gesundheit nicht geeignet sind. Hinzuzufügen ist: Zur Zeit der Haft von Fuchs und Bahro waren diese Geräte in den Untersuchungshaftanstalten des MfS noch gar nicht im Einsatz!

Das hindert die »Zeitzeugen« in der »Gedenkstätte Hohenschönhausen« jedoch nicht daran, den Verdacht der radioaktiven Verstrahlung weiterhin in aller Breite darzustellen, verbunden mit dem Hinweis, daß beteiligte Mitarbeiter des MfS »wie ein Grab« darüber schweigen. Die »Zeitzeugin« der »Gedenkstätte« Vera Lengsfeld behauptet hierzu, daß diese Strahlung auch über das Essen, die Kleidung oder über Medizin verabreicht worden sein könnte, Jens Gieseke, Mitarbeiter der Forschungsabteilung im Hause Birthler, meinte am 5, Juni 2009 hierzu: »Entscheidend ist nicht, daß es nicht passiert ist, sondern daß es hätte geschehen können«. (siehe Anmerkung – W.S.)

Spiel mit Opferzahlen

Die Verhöhnung der Opfer ist ein ständiger Vorwurf, dem Mitarbeiter des MfS begegnen, sobald sie eine sachliche Aufarbeitung der Strafverfolgung durch das ehemalige Untersuchungsorgan einfordern. Vorab ein deutliches Ja, daß auch in der DDR Unschuldige Opfer der Strafverfolgung durch das Untersuchungsorgan des MfS wurden. Wer aber kann sich als Opfer der Strafverfolgung durch das MfS bezeichnen und wie hoch sind die tatsächlichen Opferzahlen?

Geht man von den medial publizierten und von Protagonisten des Zeitgeistes bei jeder Gelegenheit in die Debatte geworfenen Zahlen aus, so waren es mindestens 250000 Personen, die durch das MfS strafrechtlich verfolgt und zu Opfern der »SED-Diktatur« wurden. Die veröffentlichten Berichte der BStU und Dokumente des Bundestages stellen diese Zahlenangabe in Frage.

Betrachten wir zunächst die von der BStU 2007, also 17 Jahre nach der Liquidierung des MfS, veröffentlichten Zahlen zu Anträgen der Rehabilitierung und Wiedergutmachung: Danach wurden insgesamt 87032 Anträge auf Rehabilitierung und 110195 Anträge auf Wiedergutmachung, also finanzielle Entschädigung, gestellt. Unklar bleibt dabei, ob in diesen Zahlen auch Bürger anderer Staaten eingerechnet worden sind. Ebenso ist nicht nachvollziehbar, ob Bürger Anträge auf Wiedergutmachung gestellt haben, aber keine auf Rehabilitierung. Auf jeden Fall ist davon auszugehen, daß eine nicht genannte Zahl von Personen sowohl einen Antrag zur Rehabilitierung als auch einen zur Wiedergutmachung gestellt haben und deshalb in beiden Rubriken geführt werden. Um diese Doppelnennung bereinigt, schmilzt die Zahl der Opfer. Es ergibt sich also eine erhebliche Differenz zwischen den tatsächlichen Leidtragenden und der in die Welt gesetzten Zahl von 250000!

Unklar bleibt dabei, wie viele Opfer tatsächlich dem MfS zuzuordnen sind. Auf eine Anfrage der FDP-Fraktion aus dem Jahre 2009 zum Stand der Rehabilitierung und Wiedergutmachung von Opfern der DDR gab die Bundesregierung folgende Auskunft: Anträge insgesamt: 60198 (eingeschlossen sind hier auch Anträge aus den alten Bundesländern ohne Angabe der Gründe). Davon bewilligt: 39797, abgelehnt: 2185, auf andere Weise erledigt (was immer das heißen mag): 8747 und noch anhängig: 9469. Großzügig gerechnet bleiben also keine 50000 Anträge übrig, bei denen die BRD-Bürokratie eine »DDR-Opferschaft« anerkannt hat. Das entspricht also etwa 20 Prozent der behaupteten 250000 »Opfer«!

Auch diese Statistik der Bundesregierung gibt nicht darüber Aufschluß, wie viele der Anträge auf Handeln des MfS zurückzuführen sind. Warum? Es gibt bekanntlich drei Gesetze zur Rehabilitierung: 1. das Gesetz für strafrechtlich Verfolgte (StrRehaG), dessen »Opfer« automatisch dem MfS zugeordnet werden, 2. das Gesetz zur verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung (VwRehaG), von dem behördliche Entscheidungen - von der Einweisung in ein Kinderheim bis zu territorialen Aufenthaltsverboten - erfaßt werden, 3. das Gesetz zur beruflichen Rehabilitierung (BerRehaG), auf welches sich alle beziehen können, die der Meinung sind, in ihrer beruflichen Entwicklung in der DDR behindert worden zu sein. Da die beiden letztgenannten Gesetze zur Kriminalisierung des MfS wenig geeignet sind, ist eine statistische Differenzierung nicht möglich. Nicht einmal diejenigen, die als Opfer anerkannt sind und nach dem StrRehaG Rehabilierung durch den Staat erfahren haben, können in jedem Fall als Opfer des MfS in Betracht gezogen werden, da neben dem MfS auch durch die Volkspolizei und die Zollverwaltung Ermittlungsverfahren durchgeführt wurden. Von wem und in wie vielen Fällen gegen tatsächlich Unschuldige ermittelt wurde, bedarf noch der Aufklärung. Festgehalten werden sollte aber: Die Zahl der tatsächlichen Opfer des MfS - gemessen an der Bevölkerung der DDR - reduziert sich auf einen Promillewert!

Verunglimpfung der IM

Jeder Geheimdienst der Welt arbeitet mit Inoffiziellen Mitarbeitern zusammen, so auch das MfS und die Geheimdienste der BRD. Aufgaben und Anzahl der IM leiten sich von den Zielsetzungen ab, die dem Geheimdienst von der politischen und staatlichen Führung des Landes gestellt werden. Die IM des MfS gehören seit der Beseitigung der DDR von der ersten Stunde an zu jenen, gegen die sich Verachtung und Haß der Vertreter des Zeitgeistes richteten.

Das begann schon mit Behauptungen zum IM-Bestand. Die Journalisten Manfred Schell und Werner Kaiinka setzten 1992 die aberwitzige Zahl von »ein bis zwei Millionen« IM in die Welt, die jahrelang kolportiert wurde, bis letztlich die BStU eine Zahl von 173000 verkündete. Diese Zahl schließt allerdings auch jene IM ein, die nur mittelbar in operative Prozesse einbezogen waren, so 33354 Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) und insgesamt 30446 Inhaber konspirativer Wohnungen (KW), Verwalter konspirativer Objekte (KO) sowie Bürger, die Deckadressen und -telefone (DA und DT) zur Verfügung stellten, so daß von der Gesamtzahl noch etwa 110000 verbleiben.

Ohne Zweifel - eine viel zu hohe Zahl, aber für eine »flächendeckende Überwachung« der Bürger der DDR, wie das immer wieder behauptet wird, reicht selbst eine solche Anzahl von IM nicht, sie macht 0,6 Prozent der DDR-Bevölkerung aus.

Der Zahlennachweis durch die BStU bringt auch andere interessante Feststellungen ans Tageslicht, die freilich in der öffentlichen Auswertung keine Rolle spielten. So waren nur ganze vier Prozent der IM als IMB, also zur unmittelbaren Bearbeitung von im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen und Organisationen, eingesetzt. Nach dem Presserummel über die Anwerbung von Schülern und Minderjährigen ergibt sich nach den BStU-Zahlen, daß 0,8 Prozent des Gesamtbestandes zu dieser sozialen Gruppe gehörte; die meisten Werbungen erfolgten im Vorfeld des Wehrdienstes. Von der überdimensionierten Werbung von weiblichen IM bleiben ganze 17 Prozent, und zwar in allen IM-Kategorien. übrig. Soviel zur »Angriffsfront Intimleben«.

Heute reichen bereits ein leerer Aktendeckel, der neben dem Namen die Bezeichnung »IM« ausweist, oder aber eine dreijährige Dienstzeit im Wachregiment zur Verdammung und Verunglimpfung der Person aus. Eine differenzierte Bewertung der Einsatzrichtung und der erfüllten Aufträge der IM erfolgt nicht. IM ist gleich IM oder Spitzel gleich Spitzel. Ob in der Spionageabwehr, der Aufklärung, der Abwehr von Angriffen gegen die Wirtschaft oder des Verkehrswesens, gegen Terroristen, Brandstifter usw. eingesetzt, das findet keine Berücksichtigung. Die gesellschaftliche Ausgrenzung ist mit diesen zwei Buchstaben programmiert.

Wunschbild der »Aufarbeiter«

Es war bisher unbestritten, daß sich bis auf die durch die Aufklärung vernichteten Akten, alle Materialien des MfS, gleich ob als Schriftstücke oder als Papierschnipsel, in der Verfügung der BStU befinden. Das ist kürzlich auch durch das Auffinden der Akte über den Polizisten Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg 1967 erschossen hatte, unter Beweis gestellt worden.

Nach 20000 bis 30000 Verdachtsprüfungen wegen MfS-Straftaten gegen Mitarbeiter des MfS erfolgten 131 Anklagen mit 62 Freisprüchen (47 Prozent), 36 Bewährungsstrafen (28 Prozent) und 31 Geldstrafen (24 Prozent). Lediglich zwei Haftstrafen wurden ausgesprochen.

Die »Aufarbeiter« des MfS haben sich über Jahre hinweg ein Mosaik über die Struktur. Aufgabenstellung und Ziele, über Mittel und Methoden, über Schwerpunkte und über weniger Wichtiges im MfS zusammengelegt, das ihrem Auftrag zur Delegitimierung und Diskreditierung entspricht. Das schließt unbegründete Behauptungen und die Unterscheidung in Täter (gemeint sind alle offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter) und Opfer ein.

Beweise und Belege für schwere Straftaten konnten durch die Gerichte nicht beschafft werden. Das ruft die »Aufarbeiter« mit neuen Behauptungen auf den Plan: »Die Gerichte haben viel zu human geurteilt, so wie das nach Diktaturen immer der Fall ist« oder »Die Stasi-Mitarbeiter sollen endlich die geheimen Akten herausgeben«, so Vera Lengsfeld und andere aus diesem Freundeskreis. Wann findet diese Gesellschaft endlich die Kraft, mit der Ausgrenzung Hundertausender ehemaliger DDR-Bürger aufzuhören?

Beide Autoren waren über Jahrzehnte beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR tätig, Herbert Kierstein im Bereich der Untersuchung von »Spionagedelikten gegen die DDR« und Gotthold Schramm zunächst in der Spionageabwehr und dann für die Sicherheit der DDR-Auslandsvertretungen zuständig. Von ihnen erschien vor kurzem in der Berliner edition ost »Freischützen des Rechtsstaats - Wem nützen die Stasiunterlagen und Gedenkstätten?« (auch im jW-Shop erhältlich)

 

Anmerkung:

Das Insiderkomitee hatte in einem anderen Zusammenhang auf die Dr. Jens Gieseke zugeschriebenen Äußerungen hingewiesen. Dieser hatte daraufhin dem Insiderkomitee per E-Mail erklärt: „Auch wenn es so in der Zeitung stand, stammen diese Worte nicht von mir. Sie geben weder wörtlich noch sinngemäß meine Position zur Frage der angeblichen Verstrahlung von Opfern Ihres Ministeriums wieder.“

Unabhängig davon gehört es aber zur gängigen Praxis, Hassphantasien nach dem Motto: „zuzutrauen ist es denen schließlich!“ in der Propaganda gegen das MfS als vermeintliche Tatsachen hinzustellen. Z.B. wird im MfS-Handbuch der BStU über die Hauptabteilung XX durch Thomas Auerbach eine Behauptung von Jürgen Fuchs ungeprüft wiedergegeben, das MfS habe auf ihn (Fuchs) in Westberlin einen Sprengstoffanschlag verübt. Eine Rückfrage bei Herrn Auerbach, warum in diesem Fall noch nicht einmal ein Ermittlungsverfahren gegen die zuständigen Mitarbeiter eingeleitet wurde, blieb bisher unbeantwortet.

W.S.