junge Welt
15.01.2010/Thema/Seite 10
Vom Haß zur Lüge
Die Birthler-Behörde und die ehemalige DDR-Opposition verteufeln das MfS, Beweise für kriminelle Handlungen können sie kaum liefern. Wahrheit und Sachlichkeit ist erforderlich.
Herbert Kierstein und Gotthold Schramm
Heute vor 20 Jahren wurden einem Aufruf des »Neuen Forum« folgend Teile der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin besetzt. Inzwischen ist bestätigt, daß mit den Bürgerrechtlern auch beauftragte Agenten des BND und der CIA ihre Chance wahrgenommen hatten.
In der Erinnerungsschlacht um die DDR spielt das MfS noch immer eine herausragende Rolle. Statt einer kritischen, auf Tatsachen und Beweisen beruhenden Aufarbeitung wurden Verdächtigungen und Lügen zur Grundlage für das vom Zeitgeist gezeichnete Geschichtsbild - auch 20 Jahre danach.
Von den Forderungen und Vorschlägen der Vertreter der Opposition aus den letzten Jahren der DDR für Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse ist nach der deutschen Einheit manches unerfüllt geblieben. So ist der Aufschrei zur Umwandlung von Schwertern in Pflugscharen verstummt, die Forderung zur Abschaffung aller Geheimdienste ist der Unterscheidung zwischen denen in Diktaturen und denen in Demokratien, die selbstverständlich unter parlamentarischer Kontrolle stehen, gewichen, und der geforderten Beseitigung des Abhörens von Gesprächen mittels Wanzen und Telefonüberwachung ist in potenzierter Form das Abhören von Gesprächen durch Staat und Konzerne gefolgt.
Die Beurteilung der DDR durch jene Vertreter, die einst mehr Demokratie und mehr Freiheit in der DDR und gesellschaftliche Veränderungen in der BRD gefordert hatten, ist heute deckungsgleich mit den Kräften, die von der ersten Stunde der DDR an deren Beseitigung verlangten und diese aktiv betrieben haben. Der DDR und ihren Exponenten wird der erste Versuch einer sozialistischen und alternativen Entwicklung in Deutschland weder vergessen noch verziehen. Auch 20 Jahre nach der DDR nicht.
Gegen das MfS wird die Speerspitze gerichtet. Es gehörte zu jenen Institutionen, die sich den Plänen reaktionärer Kräfte der BRD und ihren Geheimdiensten aktiv entgegenstellten und diese in nicht wenigen Fällen verhinderten. Delegitimierung und Verdammung der DDR wird wesentlich davon bestimmt. Zwischen den Vertretern der ehemaligen Opposition und den dunklen Kräften der BRD-Vergangenheit gibt es in der generellen Beurteilung der DDR keinen Unterschied mehr.
Der Weg des zivilisierten Umgangs miteinander, eine möglichst sachliche Bewertung der Vergangenheit, wie sich das Anfang der 90er Jahre andeutete, ist längst verlassen. Dem Streben nach Wahrheit und Versöhnung ist eine zunehmende Vergiftung der gesellschaftlichen Atmosphäre auf der Grundlage von Haß gegen alles, was die DDR auch nur ansatzweise positiv darstellt, gefolgt. Widerspruch wird weder geduldet noch ertragen, Tendenzen einer angeheizten Pogromstimmung sind festzustellen, Lügen und Verleumdungen sind Bestandteil dieses Feldzuges.
Nazi- und Kriegsverbrecher
Zu den über die Tätigkeit des MfS in die Welt gesetzten
Behauptungen gehört auch jene Ungeheuerlichkeit, das MfS habe Hunderte Nazi-
und Kriegsverbrecher gedeckt und für operative oder politische Ziele in Reserve
gehalten. Sogar Vorwürfe, das MfS bediente sich strammer Nazis im
»Foltergeschäft«, haben heute noch Konjunktur.
Überzeugend hat dies 2002 der niederländische Strafrechtler
Christiaan Frederik Rüter von der Universität Amsterdam in der Studie
»DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer
Tötungsverbrechen« widerlegt. Darin bescheinigt er der DDR, schnellerund konsequenter
als die BRD die Aufarbeitung von Nazi- und Kriegsverbrechen durchgeführt zu
haben.
Zum »Täterschutz« durch das MfS führte er aus: »Nun wird
aber seit Jahren erzählt, das MfS habe nicht einzelne, sondern Hunderte
verurteilungsfähige NS-Verbrecher der Strafverfolgung entzogen. (...) Auch ich
bin bei den 40 Behörden, vom Bundesministerium für Justiz über die
Gauck-Behörde bis zum letzten Landesarchiv, die ich bei meiner Arbeit bemüht
habe, nicht auf sie gestoßen. (...) Und die Staatsanwälte der Zentralen Stelle,
die immerhin jahrelang die Archive des MfS durchforscht haben, haben sie ebenso wenig zutage fördern können. (...) Niemand
von diesen Hunderten ist nach 1990, als alles anders und besser gemacht werden
sollte, vor Gericht erschienen. (...) All dies müßte, so würde man meinen, doch
einigen Leuten aufgefallen sein. Aber die Reservoir-These erfreut sich nach wie
vor breiter Beliebtheit.«
Drei Jahre nach der Vorstellung dieser international stark
beachteten Studie, 2005, lud die Pressestelle der Birthler-Behörde (BStU) zur
Präsentation des Buches »NS-Verbrechen und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik
der DDR«. Autor ist Henry Leide, ein von der BStU bezahlter Mitarbeiter. »Die
vorliegende Studie (...) belegt, daß Hunderte Personen von Ermittlungen und
Strafen verschont blieben, obwohl dem MfS in vielen Fällen konkrete
Anhaltspunkte für eine Beteiligung an Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen
die Menschlichkeit vorlagen«, erklärte Pressesprecher Christian Booß. Da waren
sie wieder, die Heerscharen von NS-Tätern, die Rüter jedoch in 40 Archiven -
auch dem der BStU - nicht hatte finden können. Die »Täter« Horst Busse
(Staatsanwalt), Dr. Hans-Herbert Nehmer (Richter) und Dieter Skiba
(Untersuchungsorgan des MfS) analysierten 2007 Leides Werk in ihrer
Streitschrift »Anti-Leide« akribisch. »Das ganze Palaver zum Kern des Themas
ist im Ergebnis pure Dichtkunst«, urteilen sie am Ende. Die der Meinungsfreiheit
»verpflichteten« Medien nahmen auch dies nicht zur Kenntnis.
Mord- und
Killerkommandos
Der international bekannte Jurist Otto Kirchheimer stellte
1965 in seinem Standardwerk »Politische Justiz« fest: »Vielerlei läßt sich in
politischen Konflikten mit einem Kriminalprozeß anfangen (...). Es gibt kaum
eine Gattung krimineller Delikte, die banalsten und außergewöhnlichsten nicht
ausgenommen, die man nicht benutzen könnte, politische Leidenschaften zu
entfachen. Höchst dramatisch läßt sich die Aufführung gestalten, wenn die
Anklage auf Mord lautet (...) und der Angeklagte ein prominenter Vertreter der Gegenpartei
ists« Dem entspricht das Vorgehen gegen das MfS: Anfang Juni 1992
wurde der ehemalige Leiter einer Hauptabteilung des MfS, Dr. Karli Coburger,
verhaftet. Mit dem Vorwurf, daß in seiner Diensteinheit ein Auftragsmordkommando
bestanden haben soll, schien endlich ein propagandistisch auswertbares und
abscheuliches Verbrechen gefunden worden zu sein. Der Berliner Kurier erschien
am Folgetag mit zentimeterdicken Lettern: "Chef der Stasikiller
festgenommen. (...) Das MfS unterhielt im Westen eine Killertruppe von 21
Kriminellen. Aus Statistiken geht hervor, daß sie 500 Aufträge erledigt hat.
Das MfS zahlte dafür rund zwei Millionen Mark«. Ähnliche Veröffentlichungen
erschienen auch in anderen Medien.
Die Mordanklage wurde zum Flop. Die Beweiserhebung
bestätigte weder die Existenz eines Auftragskommandos noch Belege für versuchte
oder begangene Morde. Coburger wurde freigesprochen. Einen ähnlichen Verlauf nahm
das Verfahren gegen den stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, Dr.
Gerhard Neiber, dem Morde im Zusammenhang mit einer angeblichen Unterstützung
der RAF unterstellt wurden. Auch er mußte freigesprochen werden.
Morde und immer wieder Morde durch das MfS, so die
angebliche Ermordung von Detlev Karsten Rohwedder, dem ersten Präsidenten der
Treuhandanstalt, durch »Stasiseilschaften« in der RAF; die ungeheuerliche
Behauptung der Berliner Morgenpost, daß 2500 Häftlinge ermordet und »Tausende«
in den Selbstmord getrieben worden sind; der Verdacht, daß die 1999 auf dem
Städtischen Friedhof in Berlin-Hohenschönhausen gefundenen Überreste von 132
Menschen aus dem Untersuchungsgefängnis des MfS stammen, und - viele andere Beispiele.
Einen Höhepunkt dieser Lügen- und Verleumdungskampagne
stellte im Herbst 2003 die Festnahme eines braven Hausmeisters aus Rheinsberg
dar, der als »Chef eines Killerkommandos« 27 Auftragsmorde durchgeführt haben sollte.
Deren Opfer waren angeblich der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Uwe
Barschel, der DDR-Fußballnationalspieler Lutz Eigendorf, der sich 1979 in die
BRD abgesetzt hatte, und der ehemalige Finanzminister der DDR, Siegfried Böhm.
Im Dezember mußte der Haftbefehl aufgehoben werden, von den Morden und den
Aufträgen hierzu war nichts übriggeblieben. Die Strafverfolgungsbehörden der
BRD waren einem Gauner aufgesessen. Ein Beispiel dafür, wozu Voreingenommenheit
und Verblendung führen können.
Der Tod des ehemaligen BFC-Berlin-Fußballers Lutz Eigendorf
war 20 Jahre danach, im »Jubiläumsjahr« 2009, Gegenstand erneuter Hetze und
Verleumdung. In seinem ehemaligen Wohnort Gießen wurde hierzu eine regelrechte
Kampagne entfacht. Angeblich seien 30 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) in die »Bearbeitung«
Eigendorfs einbezogen gewesen, eine Gruppe von Mitarbeitern des MfS habe den
Vorgang geführt. Aber nach 20 Jahren gibt es noch keinen einzigen Beweis für
den »Mord« - obwohl alle angeblich Beteiligten und alle Materialien zur
Beweisführung zur Verfügung standen.
Märchen aus Hohenschönhausen
Ein Vergleich der Selbstdarstellung der »Gedenkstätte
Berlin-Hohenschönhausen« im Internet mit der dort täglich geübten Praxis
offenbart Widersprüche und gibt Aufschluß über ihre tatsächliche Rolle als ein
Zentrum im staatlich organisierten und finanzierten Netzwerk zur
Delegitimierung der DDR. Die »Gedenkstätte« beschäftigt »Zeitzeugen«, von denen
mehr als die Hälfte niemals in Hohenschönhausen inhaftiert waren. Ihre Aufgabe
ist es, den überwiegend organisierten Besuchergruppen ein nachhaltiges Bild von
angeblich durch das MfS begangenen Grausamkeiten zu vermitteln.
Was geschieht genauer in dieser »Gedenkstätte«, in der von
1945 bis 1951 die Haftanstalt des sowjetischen NKWD und danach die
Untersuchungshaftanstalt des MfS untergebracht war? Die »Zeitzeugen«
unterscheiden nicht zwischen diesen beiden Diensten. Sie übertragen
Behauptungen über Verstöße gegen die Menschlichkeit durch sowjetische Organe
ohne jede Abgrenzung vom MfS. Sie verharmlosen die faschistische Diktatur und
ihre Verbrechen, indem sie diese mit dem Vorgehen des MfS gleichsetzen. Der
»Zeitzeuge« Siegmar Faust behauptet sogar, daß die Vernehmungsmethoden der
Gestapo humaner waren als die des MfS. Die »Zeitzeugen« stellen
Untersuchungsmethoden und Vorgehensweisen des MfS dar, die auf »Hörensagen« beruhen
und durch praktische Vorgänge und Beispiele nicht zu beweisen sind. Und sie
fälschen Zahlen mit dem Ziel der Diffamierung des MfS und stellen Sachverhalte
und Umstände so dar, daß sie mit der Wahrheit nichts zu tun haben. Dies ist
durch Berichte von Besuchern belegbar.
Um behaupten zu können, es wäre im Untersuchungsgefängnis
Hohenschönhausen Wasserfolter praktiziert worden, wurden entsprechende Zellen
»rekonstruiert«, deren Anblick allein ausreicht, um Besuchern einen Schauer
über den Rücken laufen zu lassen. Von den »Zeitzeugen« wird die »Wasserfolter«
wie folgt dargestellt: tagelanges Stehen im Wasser, eimerweises Übergießen und
tagelanges gleichmäßiges Tropfen auf den Körper, vorwiegend den Kopf.
Rückfragen nach Zeugen oder anderen Belegen für die Nutzungszeit
durch das .MfS wurden durch »Zeitzeugen« der Gedenkstätte im Verlauf
der Zeit unterschiedlich beantwortet. 2003 hieß es: Der Bau der Zellen erfolgte
nach Angaben eines Häftlings, der 1947 als Gefangener des NKWD zum Bau der
»Originalzellen« eingesetzt worden war. Namen von Folteropfern wurden nicht
genannt. Zwei Jahre später lautete die Auskunft nur noch: Zeitzeugen haben wir
bisher nicht gefunden, wahrscheinlich hat diese martialische Folter niemand
überlebt. Neuerlich werden Namen von Personen genannt, die dazu publiziert
haben sollen. Nachforschungen hierzu erbrachten nur in einem einzigen Fall
dubiose Aussagen vom Hörensagen, deren Beschreibung mit der Realität in der Untersuchungshaftanstalt
Berlin-Hohenschönhausen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Übrig bleibt:
Es handelt sich um nicht zu beweisende Behauptungen und Lügen.
Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung der radioaktiven
Verstrahlung. 1989 hatten Vertreter eines Bürgerkomitees bei der Besichtigung
der Untersuchungshaftanstalt in der Bezirksverwaltung Gera des MfS ein
Röntgengerät wahrgenommen, mit dem verdächtige Postsendungen und andere
Gegenstände untersucht worden sind. Solche Geräte waren an Grenzübergängen,
beim Zoll, in Auslandsvertretungen und anderswo im Einsatz. Im weiteren Verlauf
wurde behauptet, daß die beiden später an einer tückischen Krebskrankheit verstorbenen
Häftlinge Jürgen Fuchs und Rudolf Bahro mit solchen Geräten bestrahlt worden seien.
Expertisen bundesdeutscher Institute ergaben, daß diese Geräte für eine
Schädigung der menschlichen Gesundheit nicht geeignet sind. Hinzuzufügen ist:
Zur Zeit der Haft von Fuchs und Bahro waren diese Geräte in den Untersuchungshaftanstalten
des MfS noch gar nicht im Einsatz!
Das hindert die »Zeitzeugen« in der »Gedenkstätte
Hohenschönhausen« jedoch nicht daran, den Verdacht der radioaktiven
Verstrahlung weiterhin in aller Breite darzustellen, verbunden mit dem Hinweis,
daß beteiligte Mitarbeiter des MfS »wie ein Grab« darüber schweigen. Die
»Zeitzeugin« der »Gedenkstätte« Vera Lengsfeld behauptet hierzu, daß diese
Strahlung auch über das Essen, die Kleidung oder über Medizin verabreicht
worden sein könnte, Jens Gieseke, Mitarbeiter der Forschungsabteilung im Hause
Birthler, meinte am 5, Juni 2009 hierzu: »Entscheidend ist nicht, daß es nicht
passiert ist, sondern daß es hätte geschehen können«. (siehe Anmerkung – W.S.)
Spiel mit
Opferzahlen
Die Verhöhnung der Opfer ist ein ständiger Vorwurf, dem
Mitarbeiter des MfS begegnen, sobald sie eine sachliche Aufarbeitung der
Strafverfolgung durch das ehemalige Untersuchungsorgan einfordern. Vorab ein deutliches
Ja, daß auch in der DDR Unschuldige Opfer der Strafverfolgung durch das Untersuchungsorgan
des MfS wurden. Wer aber kann sich als Opfer der Strafverfolgung durch das MfS
bezeichnen und wie hoch sind die tatsächlichen Opferzahlen?
Geht man von den medial publizierten und von Protagonisten
des Zeitgeistes bei jeder Gelegenheit in die Debatte geworfenen Zahlen aus, so
waren es mindestens 250000 Personen, die durch das MfS strafrechtlich verfolgt
und zu Opfern der »SED-Diktatur« wurden. Die veröffentlichten Berichte der BStU
und Dokumente des Bundestages stellen diese Zahlenangabe in Frage.
Betrachten wir zunächst die von der BStU 2007, also 17
Jahre nach der Liquidierung des MfS, veröffentlichten Zahlen zu Anträgen der
Rehabilitierung und Wiedergutmachung: Danach wurden insgesamt 87032 Anträge auf
Rehabilitierung und 110195 Anträge auf Wiedergutmachung, also finanzielle
Entschädigung, gestellt. Unklar bleibt dabei, ob in diesen Zahlen auch Bürger
anderer Staaten eingerechnet worden sind. Ebenso ist nicht nachvollziehbar, ob
Bürger Anträge auf Wiedergutmachung gestellt haben, aber keine auf
Rehabilitierung. Auf jeden Fall ist davon auszugehen, daß eine nicht genannte
Zahl von Personen sowohl einen Antrag zur Rehabilitierung als auch einen zur
Wiedergutmachung gestellt haben und deshalb in beiden Rubriken geführt werden.
Um diese Doppelnennung bereinigt, schmilzt die Zahl der Opfer. Es ergibt sich
also eine erhebliche Differenz zwischen den tatsächlichen Leidtragenden und der
in die Welt gesetzten Zahl von 250000!
Unklar bleibt dabei, wie viele Opfer tatsächlich dem MfS
zuzuordnen sind. Auf eine Anfrage der FDP-Fraktion aus dem Jahre 2009 zum Stand
der Rehabilitierung und Wiedergutmachung von Opfern der DDR gab die
Bundesregierung folgende Auskunft: Anträge insgesamt: 60198 (eingeschlossen
sind hier auch Anträge aus den alten Bundesländern ohne Angabe der Gründe).
Davon bewilligt: 39797, abgelehnt: 2185, auf andere Weise erledigt (was immer
das heißen mag): 8747 und noch anhängig: 9469. Großzügig gerechnet bleiben also
keine 50000 Anträge übrig, bei denen die BRD-Bürokratie eine »DDR-Opferschaft«
anerkannt hat. Das entspricht also etwa 20 Prozent der behaupteten 250000
»Opfer«!
Auch diese Statistik der Bundesregierung gibt nicht darüber
Aufschluß, wie viele der Anträge auf Handeln des MfS zurückzuführen sind.
Warum? Es gibt bekanntlich drei Gesetze zur Rehabilitierung: 1. das Gesetz für
strafrechtlich Verfolgte (StrRehaG), dessen »Opfer« automatisch dem MfS
zugeordnet werden, 2. das Gesetz zur verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung
(VwRehaG), von dem behördliche Entscheidungen - von der Einweisung in ein
Kinderheim bis zu territorialen Aufenthaltsverboten - erfaßt werden, 3. das
Gesetz zur beruflichen Rehabilitierung (BerRehaG), auf welches sich alle
beziehen können, die der Meinung sind, in ihrer beruflichen Entwicklung in der
DDR behindert worden zu sein. Da die beiden letztgenannten Gesetze zur
Kriminalisierung des MfS wenig geeignet sind, ist eine statistische
Differenzierung nicht möglich. Nicht einmal diejenigen, die als Opfer anerkannt
sind und nach dem StrRehaG Rehabilierung durch den Staat erfahren haben, können
in jedem Fall als Opfer des MfS in Betracht gezogen werden, da neben dem MfS
auch durch die Volkspolizei und die Zollverwaltung Ermittlungsverfahren
durchgeführt wurden. Von wem und in wie vielen Fällen gegen tatsächlich
Unschuldige ermittelt wurde, bedarf noch der Aufklärung. Festgehalten werden
sollte aber: Die Zahl der tatsächlichen Opfer des MfS - gemessen an der
Bevölkerung der DDR - reduziert sich auf einen Promillewert!
Verunglimpfung der
IM
Jeder Geheimdienst der Welt arbeitet mit Inoffiziellen
Mitarbeitern zusammen, so auch das MfS und die Geheimdienste der BRD. Aufgaben
und Anzahl der IM leiten sich von den Zielsetzungen ab, die dem Geheimdienst
von der politischen und staatlichen Führung des Landes gestellt werden. Die IM
des MfS gehören seit der Beseitigung der DDR von der ersten Stunde an zu jenen,
gegen die sich Verachtung und Haß der Vertreter des Zeitgeistes richteten.
Das begann schon mit Behauptungen zum IM-Bestand. Die
Journalisten Manfred Schell und Werner Kaiinka setzten 1992 die aberwitzige
Zahl von »ein bis zwei Millionen« IM in die Welt, die jahrelang kolportiert wurde,
bis letztlich die BStU eine Zahl von 173000 verkündete. Diese Zahl schließt
allerdings auch jene IM ein, die nur mittelbar in operative Prozesse einbezogen
waren, so 33354 Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) und
insgesamt 30446 Inhaber konspirativer Wohnungen (KW), Verwalter konspirativer
Objekte (KO) sowie Bürger, die Deckadressen und -telefone (DA und DT) zur
Verfügung stellten, so daß von der Gesamtzahl noch etwa 110000 verbleiben.
Ohne Zweifel - eine viel zu hohe Zahl, aber für eine
»flächendeckende Überwachung« der Bürger der DDR, wie das immer wieder
behauptet wird, reicht selbst eine solche Anzahl von IM nicht, sie macht 0,6
Prozent der DDR-Bevölkerung aus.
Der Zahlennachweis durch die BStU bringt auch andere
interessante Feststellungen ans Tageslicht, die freilich in der öffentlichen
Auswertung keine Rolle spielten. So waren nur ganze vier Prozent der IM als
IMB, also zur unmittelbaren Bearbeitung von im Verdacht der Feindtätigkeit
stehenden Personen und Organisationen, eingesetzt. Nach dem Presserummel über
die Anwerbung von Schülern und Minderjährigen ergibt sich nach den BStU-Zahlen,
daß 0,8 Prozent des Gesamtbestandes zu dieser sozialen Gruppe gehörte; die
meisten Werbungen erfolgten im Vorfeld des Wehrdienstes. Von der überdimensionierten
Werbung von weiblichen IM bleiben ganze 17 Prozent, und zwar in allen
IM-Kategorien. übrig. Soviel zur »Angriffsfront Intimleben«.
Heute reichen bereits ein leerer Aktendeckel, der neben dem
Namen die Bezeichnung »IM« ausweist, oder aber eine dreijährige Dienstzeit im
Wachregiment zur Verdammung und Verunglimpfung der Person aus. Eine differenzierte
Bewertung der Einsatzrichtung und der erfüllten Aufträge der IM erfolgt nicht.
IM ist gleich IM oder Spitzel gleich Spitzel. Ob in der Spionageabwehr, der
Aufklärung, der Abwehr von Angriffen gegen die Wirtschaft oder des
Verkehrswesens, gegen Terroristen, Brandstifter usw. eingesetzt, das findet
keine Berücksichtigung. Die gesellschaftliche Ausgrenzung ist mit diesen zwei
Buchstaben programmiert.
Wunschbild der »Aufarbeiter«
Es war bisher unbestritten, daß sich bis auf die durch die
Aufklärung vernichteten Akten, alle Materialien des MfS, gleich ob als
Schriftstücke oder als Papierschnipsel, in der Verfügung der BStU befinden. Das
ist kürzlich auch durch das Auffinden der Akte über den Polizisten Karl-Heinz
Kurras, der Benno Ohnesorg 1967 erschossen hatte, unter Beweis gestellt worden.
Nach 20000 bis 30000 Verdachtsprüfungen wegen
MfS-Straftaten gegen Mitarbeiter des MfS erfolgten 131 Anklagen mit 62
Freisprüchen (47 Prozent), 36 Bewährungsstrafen (28 Prozent) und 31 Geldstrafen
(24 Prozent). Lediglich zwei Haftstrafen wurden ausgesprochen.
Die »Aufarbeiter« des MfS haben sich über Jahre hinweg ein
Mosaik über die Struktur. Aufgabenstellung und Ziele, über Mittel und Methoden,
über Schwerpunkte und über weniger Wichtiges im MfS zusammengelegt, das ihrem
Auftrag zur Delegitimierung und Diskreditierung entspricht. Das schließt
unbegründete Behauptungen und die Unterscheidung in Täter (gemeint sind alle
offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter) und Opfer ein.
Beweise und Belege für schwere Straftaten konnten durch die
Gerichte nicht beschafft werden. Das ruft die »Aufarbeiter« mit neuen
Behauptungen auf den Plan: »Die Gerichte haben viel zu human geurteilt, so wie
das nach Diktaturen immer der Fall ist« oder »Die Stasi-Mitarbeiter sollen
endlich die geheimen Akten herausgeben«, so Vera Lengsfeld und andere aus diesem
Freundeskreis. Wann findet diese Gesellschaft endlich die Kraft, mit der
Ausgrenzung Hundertausender ehemaliger DDR-Bürger aufzuhören?
Beide Autoren waren über Jahrzehnte beim Ministerium für
Staatssicherheit (MfS) der DDR tätig, Herbert Kierstein im Bereich der
Untersuchung von »Spionagedelikten gegen die DDR« und Gotthold Schramm zunächst
in der Spionageabwehr und dann für die Sicherheit der DDR-Auslandsvertretungen
zuständig. Von ihnen erschien vor kurzem in der Berliner edition ost
»Freischützen des Rechtsstaats - Wem nützen die Stasiunterlagen und
Gedenkstätten?« (auch im jW-Shop erhältlich)
Anmerkung:
Das
Insiderkomitee hatte in einem anderen Zusammenhang auf die Dr. Jens Gieseke
zugeschriebenen Äußerungen hingewiesen. Dieser hatte daraufhin dem
Insiderkomitee per E-Mail erklärt: „Auch wenn es so in der Zeitung stand,
stammen diese Worte nicht von mir. Sie geben weder wörtlich noch sinngemäß
meine Position zur Frage der angeblichen Verstrahlung von Opfern Ihres
Ministeriums wieder.“
Unabhängig
davon gehört es aber zur gängigen Praxis, Hassphantasien nach dem Motto:
„zuzutrauen ist es denen schließlich!“ in der Propaganda gegen das MfS
als vermeintliche Tatsachen hinzustellen. Z.B. wird im MfS-Handbuch der BStU über
die Hauptabteilung XX durch Thomas Auerbach eine Behauptung von Jürgen Fuchs
ungeprüft wiedergegeben, das MfS habe auf ihn (Fuchs) in Westberlin einen
Sprengstoffanschlag verübt. Eine Rückfrage bei Herrn Auerbach, warum in diesem
Fall noch nicht einmal ein Ermittlungsverfahren gegen die zuständigen
Mitarbeiter eingeleitet wurde, blieb bisher unbeantwortet.
W.S.