Mal was anderes (Frank Schumann) (aus "Ossietzky Nr. 13/2019)
Dieter Skiba ist, nunja, erkennbar
unglücklich. Der 80-Jährige hat sich die steinernen Stufen in dem sehr schönen
Treppenhaus hinaufbemüht, auch wenn er den jüngst an der Außenwand
installierten Lift hätte nehmen können. Nein, er wollte den Weg gehen, den er
22 Jahre lang gegangen war. Doch nun stehen wir in der dritten Etage vor einer
verschlossenen Tür. Auf dem Flur dahinter befand sich einst sein Arbeitszimmer.
Dort standen sein Schreibtisch und ein runder für Beratungen, und aus dem
Fenster schaute man auf die Freienwalder Straße, welche zur U-Haftanstalt des
Ministeriums führte, dem Skiba von 1958 bis zu dessen Ende diente. Jener
Gebäudekomplex zur Linken ist heute Gedenkstätte, bis zum Vorjahr beherrscht
von einem diktatorischen Knaben, dessen Namen ich vergessen habe. Er wollte
auch dieses denkmalgeschützte Haus seinem Desinformationsimperium zuschlagen,
doch er bekam es nicht. Außer einer Stele auf dem Bürgersteig und den
obligatorischen Medienberichten trug ihm sein Veitstanz damals nichts ein.
Die Villa gelangte zwar auf die
Berliner Denkmalliste, stand aber seit den 1990er Jahren leer. Zwischenzeitlich
brannten die umstehenden Werkshallen und Baracken nieder und machten das
viergeschossige Gebäude zum Solitär. 2015 erwarben eine Handvoll Künstler und
ein Architekt, gebürtig in Bonn, die Fast-Ruine in Berlin-Hohenschönhausen, um
daraus ein Atelier- und Bürohaus zu machen. Vier Jahre später präsentierten sie
die beiden ersten restaurierten Etagen. Die Kunstausstellung »Villa Heike and
other stories« war vier Wochenenden lang von jeweils 15 bis 18 Uhr zu sehen,
seit Mitte März ist das Haus bis auf unbestimmte Zeit für die Öffentlichkeit
wieder verschlossen.
Auch Oberstleutnant a. D. Dieter
Skiba hatte sich an einem Samstag auf den Weg gemacht, um seine frühere
Wirkungsstätte nach erfolgter Restaurierung zu besichtigen. »Das einst
prachtvolle Wohn- und Geschäftshaus in der Freienwalder Str. 17, das die
DDR-Machthaber für ihre Zwecke missbrauchten« – so liest man auf der Website
der Gedenkstätte nebenan – lockte nicht nur ihn: Ein Dutzend Leute begehrte
Einlass. Gegen 15 Uhr erschien eine großgewachsene junge Frau mit blonden
Haaren und sperrte die Pforte von außen auf. Die ziemlich lange Klingelleiste
war so blank wie die Briefkästen daneben. Hier wohnte und arbeitete erkennbar
niemand. Noch niemand.
Das Vestibül mit kannelierten
dorischen Säulen, Stuckdecke und Treppenaufgang verschlug einem nahezu den
Atem. Ein Tempel. Gewaltig und schlicht zugleich, stimmig in Farbe und
Proportionen. So schaute es vermutlich nicht einmal aus, als das Haus vorm
Ersten Weltkrieg dem Bauherrn übergeben wurde. Der hieß Richard Heike und
machte sein Geld mit Wurst- und Fleischmaschinen. Ein armer Mann war das gewiss
nicht, aber er schien wohl den Hals nicht vollzukriegen, denn während der
Nazizeit ließ Heike auch Zwangsarbeiter für sich schuften, weshalb Rotarmisten,
als sie 1945 Berlin und ihre deportierten Landsleute befreiten, wütend den
80-jährigen Fabrikanten vor seinem Haus exekutierten. Heike hatte bereits im
November 1940 um die Ecke, in der Genslerstraße 66, Baracken für etwa hundert
»Ostarbeiter« errichten lassen, die Gewehrkolben für die Wehrmacht fertigten.
Über wenige Stufen gelangten Skiba
und die anderen Besucher in die lichtdurchfluteten Räume im Hochparterre, wo
Kunstwerke wie etwa zwei Stahlrohre, vier Meter achtzig und drei Meter achtzig
lang, zu sehen waren. Es handelte sich, wie auf einem ausliegenden Blatt stand,
um den Fahnenmast vorm Centrum-Warenhaus am Ostbahnhof, betitelt: »It is better
to live in a state of impermanence than in one of finalty, 1978-2018«, was
soviel heißt, es sei besser in einem Zustand der Vergänglichkeit zu leben als
in einem der Endgültigkeit. Dieter Skiba hielt sich nicht mit der Exegese auf,
sondern erklärte, dass zu seiner Zeit sich hier der Leseraum befunden habe, wo
– entgegen heutigen Behauptungen – Wissenschaftler, Juristen und Journalisten
die angeblich von der Stasi versteckten und geheim gehaltenen Akten offen und
öffentlich studierten. Dort, wo die beiden Fahnenstangen waagerecht an einem
verzinkten Wandregal hingen, war die Dokumentenausgabe, sagte Skiba und eilte
neugierig weiter in die nächsten hellen Räume.
Die Ausstellung mit zwanzig Objekten
und Installationen schien improvisiert und unfertig wie das ganze Haus. Als
lastete auf den Eigentümern und Betreibern der Druck, etwas vorweisen zu
müssen, und sei es auch nur temporär. Egal, die geleistete Arbeit (und die
heißt im Kapitalismus Kapital) war solide, die Investition des Vorzeigens wert.
Das sah auch Skiba so ...
Nur dass er jetzt wegen der versperrten Tür im dritten Geschoss nicht weiterkommt wie schon im Keller, der sich über zwei Etagen erstreckt, betrübt ihn sichtlich. Zu gern würde er den Raum sehen, in welchem er vor dreißig Jahren als Chef der Hauptverwaltung IX/11 saß und somit Hausherr war in der »Villa des Grauens« (Berliner Kurier am 6. September 2016).
Sarie Nijboer reagiert auf Skibas
Bitte freundlich mit holländischem Akzent, sie habe nur den Schlüssel für die
Eingangstür. Die Mitkuratorin der Ausstellung ließe Skiba gern in sein
ehemaliges Büro ein, was ich ihr gern abnehme, denn als der ihr nämlich seine
frühere Tätigkeit und seine persönliche Beziehung zum Haus offenbart, zeigt sie
sich stärker interessiert, als es die Höflichkeit gebietet. Wenn wieder einmal
Tag der offenen Tür sei, würde sie ihn gern begrüßen und den Raum zeigen. Wann
dieser Tag sein werde, wisse sie aber nicht.
An ihrer Haltung spürt Skiba, dass
die – auch auf dem Info-Blatt zur Ausstellung – kolportierte These von der
»Stasi, die in der Villa ihr geheimes NS-Archiv lagerte«, keine erschöpfende
Auskunft auf die Frage bietet, womit das halbe Hundert Menschen, welches hier
bis 1989 unter seiner Leitung tätig war, sich konkret beschäftigte. Und was
sich vor 1945 zutrug, wird auf diese Weise ebenfalls tapfer verschwiegen (es
muss doch Gründe gegeben haben, weshalb damals die Russen bis Berlin
marschierten). Auf der Stele vorm Haus macht man zweisprachig lediglich den
Passanten publik: »In dem ehemaligen Verwaltungsgebäude der Maschinenfabrik
Richard Heike, Freienwalder Straße 17, befand sich nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs eine Verhörzentrale der sowjetischen Geheimpolizei. Auf dem
angrenzenden Werksgelände, Freienwalder Straße 17-19, unterhielt sie bis 1948
ein Haftarbeitslager. In beiden Einrichtungen kam es zu Misshandlungen der
Gefangenen. Anfang der 1950er Jahre richtete das Ministerium für
Staatssicherheit (MfS) hier seine Hauptverwaltung Personenschutz für die
Partei- und Staatsführung der DDR ein. Später unterhielt es in dem Haus ein
zentrales Geheimarchiv für personenbezogene Unterlagen aus der Zeit der
nationalsozialistischen Diktatur. Eine eigenständige Diensteinheit des MfS
ermittelte bis 1989 Angaben über NS- und Kriegsverbrecher sowie NS-belastete
Personen. Sie stellte kompromittierende Materialien zur Propaganda gegen
Politiker und Beamte der Bundesrepublik zusammen. Im benachbarten
Backsteingebäude in der Freienwalder Straße 16 befand sich bis 1951 die
Sowjetische Kommandantur, später der Sitz des MfS-Wachkommandos für das
Sperrgebiet.«
Mal abgesehen von Diktion und
Demagogie empört vor allem die dämliche Behauptung, die Akten seien einzig zu
dem Zweck gehütet und durchforstet worden, um »kompromittierende Materialien
zur Propaganda gegen Politiker und Beamte der Bundesrepublik«
zusammenzustellen.
Hier wurde aktiv und intensiv
recherchiert. Zwischen 1945 und 1990, das scheint inzwischen völlig vergessen,
wurden im Osten Deutschlands 12.890 Personen wegen Nazi- und Kriegsverbrechen
verurteilt – fast doppelt so viele wie in den westlichen Zonen beziehungsweise
der alten Bundesrepublik. Und das, obwohl dort mehr als drei Mal so viele
Menschen lebten und sich ohnehin ein Großteil der Täter in den Westen abgesetzt
hatte. Dieter Skiba legte 2016 – gemeinsam mit Reiner Stenzel – eine viel
beachtete Publikation über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren in der DDR gegen
Nazi- und Kriegsverbrecher vor und erfuhr dabei zustimmende Begleitung durch
Christiaan Frederik Rüter von der Universität Amsterdam. Der beschäftigt sich
seit den 1960er Jahren mit den in Nachkriegsdeutschland absolvierten
Strafprozessen zu faschistischen Tötungsverbrechen; inzwischen liegen fünfzig Bände
vor, vierzehn (plus Registerband) zu Verfahren in Ostdeutschland
beziehungsweise der DDR. Gleichermaßen selbstkritisch wie selbstbewusst
bekannte Skiba im Vorwort seines Buches: »Die DDR und ihre Justiz- und
Sicherheitsorgane waren nicht frei von Irrtümern und Fehlentscheidungen. Und
das war durchaus auch im Umgang mit ehemaligen Nazi-Eliten sowie in Sachen
strafrechtlicher Ahndung von Nazi- und Kriegsverbrechen nicht auszuschließen.
Dennoch bleibt: Das im Osten und in der DDR auf dem Gebiet der Ahndung von
faschistischen Systemverbrechen Geleistete kann sich im internationalen
Vergleich sehen lassen. Es war völkerrechtlich geboten und lag im nationalen
Interesse derjenigen, die sich dem friedlichen Zusammenleben der Völker
verpflichtet fühlten. Ihnen war und ist konsequenter Antifaschismus eine
Herzensangelegenheit.«
Wer dies als »Propaganda«
banalisiert und diskreditiert und über Häuser, in denen konsequente
antifaschistische Aufklärungsarbeit geleistet wurde, den Unsinn verbreitet, sie
seien »missbraucht« worden, muss sich nicht wundern, wenn braune Rattenfänger
inzwischen mit eigenen Fraktionen in deutschen Parlamenten sitzen. Das aber nur
nebenbei.
Dieter Skiba verlässt trotzdem
befriedigt die »Villa Heike«. Inzwischen ist man bereits dankbar, wenn
ehemalige Dienststellen einem anderen Zweck dienen als der Denunziation und der
Kriminalisierung der DDR. Dennoch wäre es für künftige Besucher des Hauses
hilfreich, wenn der Genius loci und die »Authentizität von Erinnerungskultur
und von Relevanz« (Info-Blatt Villa Heike) nicht nur mit Kunstwerken, sondern
auch verbal und vorurteilsfrei vermittelt würden. Da wir im Zeitalter der
Vergänglichkeit leben, wie der Künstler Christof Zwiener mit seiner
Fahnenstange zeigte, können wir jedoch begründet auch auf die Endlichkeit solch
kruder Stelen-Mitteilungen aus der Zeit des Kalten Krieges hoffen.