Insiderkomitee zur
Aufarbeitung der Geschichte des MfS e. V .
Berlin, den 29.05.1994
Zu
den Hochrechnungen der Gauck-Behörde
Am 24. Februar dieses
Jahres stellte Herr EISENFELD von der Abteilung Bildung und Forschung der Gauck-Behörde
in einer öffentlichen Veranstaltung Ergebnisse seiner Recherchen in Analysen,
Kontrollberichten und Statistiken des MfS vor, sichtlich bemüht, den
wissenschaftlichen und objektiven Charakter seiner Tätigkeit zu unterstreichen.
Eine Bitte, sein Manuskript zur Verfügung zu stellen oder darüber eine
Diskussion zu führen, ließ er bisher unbeantwortet, so dass nur ein
Gedächtnisprotokoll zur Verfügung steht.
Dabei
waren einige seiner Aussagen geradezu sensationell.
So seien 1982 in 27
Kreisdienststellen des MfS 116.000 Überprüfungen im Zusammenhang mit
sicherheitspolitisch bedeutsamen Befugnissen oder Genehmigungen durchgeführt
worden, von denen jeder 24. Bürger betroffen war .
99,6% davon hätten den
Test bestanden und nur in 124 Fällen seien Ablehnungen erfolgt.
Hieraus errechnete Herr
EISENFEID, dass in einem Jahr ca. 600 DDR-Bürger von Berufsverboten oder -Einschränkungen
betroffen waren. Hier bieten sich natürlich Nachfragen an. War die
Nichteinstellung in das MfS oder das Verhindern des Einsatzes bei den
Grenztruppen schon ein Berufsverbot oder war das Versagen von Privilegien, z.B.
des Waffenbesitzes für Jagdzwecke schon eine Berufseinschränkung, kann die
Verweigerung von Westreisen, von denen die Mehrheit der Bevölkerung ohnehin
ausgeschlossen waren, so bewertet werden usw. ?
Viel interessanter ist
eine andere Hochrechnung. Aus der Multiplikation mit dem gleichen Faktor
ergeben sich ca. 560.000 Akten, Akten- oder Karteivermerke allein in
einem Jahr, in denen DDR-Bürgern ihre Loyalität, staatsnahe Gesinnung
oder einfach nur für sie belanglose Routine bestätigt wurden . Das gibt eine
Vorstellung über die Zusammensetzung der 180 km Schriftgut der Gauck-Behörde
zu ca. 6 Millionen Personen. Es erklärt auch, warum viele Bürger bei
beantragter Akteneinsicht nichts oder nicht das vorfinden was Sie erhoffen.
Herr Gauck erklärte auf
einer öffentlichen Veranstaltung in Hohenschönhausen am 21.04.94, dass das auch
nicht das eigentliche Problem sei. Allein, dass 90 % (!) der DDR-Bürger
sich vom MfS beobachtet oder dort registriert glaubten, also Angst gehabt
hätten, hätte die unheimliche Macht dieses Organs begründet.
Es sind aber auch andere
Erklärungen möglich, so die im jüngsten "Eulenspiegel":"...
Manch einer, der sich in der DDR aus Geiz keine rote Mainelke kaufte, ist
inzwischen Widerstandskämpfer gegen das SED-Regime..."
Wie viele DDR-Bürger
standen aber nun wirklich im aktiven Widerstand? Herr EISENFELD bezifferte ihre
Zahl auf jährlich 25.000.
Diese Zahl setzt sich aus
- 2.300
Ermittlungsverfahren zu Staatsverbrechen (vermutlich unter Einschluss der durch
die Volkspolizei bearbeiteten Verfahren zu Vorfeld-Delikten für
Staatsverbrechen)
- ca. 8.000-9.000
in Operativen Vorgängen bearbeiteten und
- ca. 10.000 unter
Operativer Personenkontrolle stehenden Personen zusammen .
Um auf diese Zahl zu
kommen, musste Herr EISENFELD gleich mehrmals in die Trick-Kiste greifen.
Trick
Nr. 1:
Er musste zwar
bestätigen, dass 60% der Operativen Vorgänge wegen Nichtbestätigung des
Verdachtes einer Feindtätigkeit oder fehlender Möglichkeiten einer weiteren
Bearbeitung archiviert wurden. Durch ein bedeutungsvolles "Man wisse ja",
wie diese Personen auch nach Einstellung der Vorgangsbearbeitung weiter
verfolgt worden seien beließ er diese aber in seiner Rechnung.
Dabei hätte es eine wissenschaftlich arbeitende
Behörde einfach gehabt, zu exakten Kenntnissen zu gelangen. Jede nach Abschluss
der Vorgangsbearbeitung vorgesehene weitere Maßnahme wurde nämlich in
den Abschlussberichten dokumentiert, ergaben sich neue Verdachtsmomente für
eine Feindtätigkeit, wurde erneut eine Operative Personenkontrolle oder
Vorgangsbearbeitung aufgenommen. Die Einstellung der Vorgangsbearbeitung war in
aller Regel auch das Ende aller Maßnahmen. Welchen Sinn sollte es denn haben, ohne Nachweis und Dokumentation nach
Nichtbestätigung eines Verdachtes weiterzuarbeiten. Die Vorgangsrichtlinie 1/76
bestimmte als ausdrückliches Ziel der Vorgangsbearbeitung die objektive Prüfung
aller belastenden aber auch
aller entlastenden Fakten nach den konkreten Tatbestandsmerkmalen des
Strafgesetzbuches der DDR. Das führte doch letztlich auch zu Ergebnissen, die
bei Beginn der Personenkontrolle bzw. Vorgangsbearbeitung immer offen waren.
Trick
Nr. 2
Herr EISENFELD hielt
sich, was die Anlässe von Operativen Personenkontrollen oder
Vorgangsbearbeitung betraf, in einigen Fragen sehr bedeckt. Spionage, andere
landesverräterische Handlungen, Wirtschafts- und Militärstraftaten oder
die Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen kamen bei ihm nicht vor.
Immerhin wurden aber mehr als 10% der Ermittlungsverfahren und 30 – 40% der
Operativen Vorgänge und Operativen Personenkontrollen nach derartigen
Verdachtsgründen eingeleitet.
Bei Ermittlungsverfahren und Vorermittlungen nach staatsfeindlicher Hetze handelte es sich zu einem bedeutsamen Teil um die Aufklärung faschistischer und antisemitischer Äußerungen.
Alles Widerstandskämpfer oder was?
Trick Nr. 3
Die Einrechnung der Operativen
Personenkontrollen, die bei Anhaltspunkten, also
ersten Indizien einer Feindtätigkeit begonnen
wurden, ist insofern unseriös, da nach Angaben von Herrn EISENFELD nur 9% davon in eine Vorgangsbearbeitung
überführt wurden, einige allerdings direkt in Ermittlungsverfahren. Die Quote,
in denen derartige Maßnahmen ohne weitere Folgen für die jeweiligen Personen
blieben, dürfte dabei noch höher liegen als bei den Operativen Vorgängen.
Trick
Nr. 4
Nach Aussagen von Herrn
EISENFELD seien nur 30% der Ermittlungsverfahren wegen Staatsverbrechen
seitens des MfS aus Operativen Vorgängen oder Operativen Personenkontrollen
entstanden. Das wären jährlich 680 (inklussive Spionage usw.) Nur in diesen
Fällen also kam es zu strafprozessualen Maßnahmen, also Inhaftierungen, aber
auch Verwarnungen, Belehrungen usw.
Viele Operative
Personenkontrollen und Operative Vorgänge wurden lange Jahre bearbeitet, ohne
zu einem Ergebnis zu gelangen und damit oft auch ohne erkennbare
Einschränkungen für die jeweiligen Bürger. Vor allem aber wurden auf keinem
Fall jedes Jahr wieder 25.000 neue im Widerstand stehende Bürger entdeckt .
Realer ist da schon die
Bezugnahme auf eine Information der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe
aus dem Jahre l989 in der für die organisierte politische Opposition in der DDR
(Sprachgebrauch des MfS: Zusammenschlüsse politischer Untergrundtätigkeit)
2.500 mehr oder weniger aktive Personen, unter ihnen 60 hartnäckige und
unbelehrbare Feinde des Sozialismus ausgewiesen waren. Diese Information war
übrigens gefertigt worden, um die Bezirks- und Kreisleitungen der SED zu
politischen und ideologischen Aktivitäten gegenüber diesen Gruppen und Personen
zu veranlassen. Die IM des MfS waren in die entsprechenden Zahlen und
beigefügten Personenzusammenstellungen aus Gründen der Konspiration
eingerechnet.
Real ist auch, dass im
Frühjahr 1987 87.000 Personen einen Antrag auf Übersiedelung in die BRD
gestellt hatten, überwiegend aus egoistischen wirtschaftlichen Motiven, ihr
Vorhaben aber teilweise durch politische Provokationen zu befördern suchten.
Wie nicht anders zu erwarten, wird dieser Personenkreis, soweit er durch
Operative Personenkontrollen oder Vorgangsbearbeitung des MfS betroffen war,
durch Herrn EISENFELD den Widerstandskämpfern zugeschlagen. Wie will er dann
aber erklären, dass nach der Wende, also nach dem Wegfall politischer Gründe,
etwa eine Million DDR-Bürger ihr Land in Richtung Westen verlassen
haben?
Zusammenfassend
kann wohl eingeschätzt werden, dass die GauckBehörde bei der durchaus
verdienstvollen Aufgabe der Aufarbeitung der Geschichte des MfS noch einen
langen Weg zurücklegen muss, um als eine wissenschaftliche Institution
Anerkennung finden zu können. Dazu muss sie einerseits den Mut haben, sich dem
wissenschaftlichen Meinungsstreit zu stellen und sich auch mit denen
auseinandersetzen, die durch langjährige Tätigkeit in diesem Organ vieles
exakter interpretieren können als manche selbsternannte Experten. Sie muss
andererseits darauf verzichten, ihre Tätigkeit an Vorurteilen und
propagandistischen Vorgaben -im oben beschriebenen Fall eine möglichst
hohe Zahl von Opfern - zu orientieren und in ihren Forschungen ergebnisoffen
sein.