junge Welt
01.04.2006 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)
»Der Achtstundentag galt auch im MfS«
Stereotype und Zuspitzungen: »Das Leben der Anderen.« Gespräch mit Wolfgang Schmidt
Oberstleutnant a. D. Wolfgang Schmidt (66) arbeitete im Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) zuletzt als Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptabteilung XX, die sich auch mit dem Kulturbereich befaßte. Der Regisseur von »Das Leben der Anderen« Florian Henckel von Donnersmarck (32) hatte mit ihm vorbereitende Gespräche zu seinem Film geführt.
- Seit einer Woche läuft »Das Leben der Anderen« in den Kinos. Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck erklärte, er habe mit »Stasi-Leuten« gesprochen, um historisch korrekt zu sein. »Die müssen entweder ihr Gedächtnis verloren haben oder der Regisseur und Drehbuchautor hat ihre Erzählungen tapfer als kommunistische Propaganda ignoriert«, mutmaßte der jW-Rezensent am 23. März. Hat er recht?
Weder das eine noch das andere trifft zu, wiewohl die Vermutung nicht ganz unbegründet scheint. Meine Frau wollte schon nach 20 Minuten wütend die Premierenvorstellung verlassen, zu der uns der Regisseur eingeladen hatte.
- Es ist nicht das erste Mal, daß ehemalige Mitarbeiter des MfS gleichsam als Alibi benutzt werden, um der Denunziation Glaubwürdigkeit zu verleihen. Auch diesmal sieht es so aus, als lieferten Sie und Ihresgleichen den Beweis für die aberwitzige These: »Ja, so war es!« - so Joachim Gauck im stern 12/06 über diesen Film. Fühlen Sie sich wieder einmal gelinkt?
Nein. Als sich von Donnersmarck am 24. September 2003 erstmals beim Insiderkomitee zur kritischen Aneignung der Geschichte des MfS meldete - er war damals noch Regiestudent an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam - und auch beim Gespräch in meiner Wohnung im Monat darauf hatte ich den Eindruck eines sehr sachlichen Menschen, der sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigte. Der gebürtige Kölner ist Sproß eines schlesischen Adelsgeschlechtes, dessen Wurzeln sich bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, weltläufig, aufgeschlossen und gebildet, kein Hallodri oder einer, der den Zeitgeist bedienen will. Ich würde mich gelinkt fühlen, wenn ich den in der Frage unterstellten Vorsatz bemerkt hätte. Das war nicht so. Der wollte wirklich wissen, wie bei uns gearbeitet wurde. Aber er ist jung, unwissend und mit allen Vorurteilen und Klischees aufgewachsen, die seit 1990 über das MfS verbreitet werden. Die kriegt man nicht in ein paar Stunden aus dem Kopf. Und außerdem: An einem Film arbeitet nicht nur einer, und es gab nicht nur MfS-freundliche Berater sowie Geldgeber, die uns wohlgesonnen wären.
- Nun sind das subjektive Wollen und die objektive Wirkung nicht immer identisch. Spielte dieser Film irgendwo und irgendwann, hätte er dank der exzellenten schauspielerischen Leistungen sogar das Zeug zum Welterfolg. Er zeigt das Innenleben eines Geheimdienstes und die menschenzerstörenden Folgen seiner Tätigkeit. Typen wie die Vorgeführten sind in allen Spitzeldiensten dieser Welt zu finden, ob sie nun Verfassungsschutz, CIA oder FSB heißen, und Sie werden kaum bestreiten, daß es sie auch im MfS gab. Doch eine solche Abstraktionsebene, auf der Kunst wirklich zu großer Kunst wird, die man auf allen Kontinenten versteht, erreicht der Film nicht. Die Handlung ist zeitlich und geopolitisch verortet und befördert eine konkrete politische Botschaft: Die DDR war ein Schweinesystem. Minister vögelten die, die sie wollten, und wurden sie abgewiesen, mußte die Stasi die Folterinstrumente zeigen; den guten Genossen wurden Bezahlte ins Haus geschickt, um sie vom harten Dienst zu entspannen, und beim MfS dachte man nur an die Karriere, denn dieses Wort wird mindestens so oft benutzt wie etwa Klassenkampf.
Ich sehe das nicht anders. Und der vom Saulus zum Paulus mutierte Hauptmann Wiesler liefert durch seine Läuterung die Elle für die anderen Charakterschweine. Insofern überraschte es mich schon, daß Hubertus Knabe keine Drehgenehmigung in Hohenschönhausen erteilte, wie mich von Donnersmarck am 20. Januar 2006 per E-Mail informierte. »Es hat viel Geld gekostet, das alles an anderer Stelle nachzubauen.«
- Was waren die Gründe, daß Knabe dagegen war?
Wegen der »Heroisierung eines Stasi-Mannes«, wie mir Herr von Donnersmarck mitteilte.
- Frau Birthler hingegen war völlig aus dem Häuschen.
Ja, wäre ich an ihrer Stelle auch. Am Ende des Films studiert der Schriftsteller Dreymann in ihrer Behörde seine Akten und entdeckt »die Wahrheit«. Gibt es eine bessere Werbung dafür, daß die rund 100 Millionen Euro pro Jahr nötig und gut in der BStU angelegt sind?
- Hubertus Knabe steht mit seiner Meinung nicht allein. Obgleich - zugegeben: sehr subtil - das MfS und die gesamte DDR geschmäht werden, mokieren sich etliche über den reuigen Sünder Wiesler. Der Berliner Tagesspiegel sah am 22. März sogar einen Zusammenhang zwischen den Filmen »Der Untergang«, »Der freie Wille« und »Das Leben der Anderen«: Dort würden Verbrecher - Hitler, ein Vergewaltiger, und ein MfS-Hauptmann - zur »tragischen Figur« gemacht. Und der erschütterte Rezensent schlägt die Leier der Opferverbände, indem er abschließend notiert: »Man wird überhaupt nach dem Sinn und Verstand - und den Erfolgsursachen - eines aktuellen deutschen Kinos fragen müssen, das sich so absichtsvoll wenig für tatsächlich Leidtragende interessiert. Wo Opfer nicht mehr zählen, wird es unheimlich. Solche Filme, so brillant sie gemacht sein mögen, züchten die prophylaktische Exkulpierung wahrer Täter. Nur: zu welchem gesellschaftlichen Ziel?«
Hamses nich ne Nummer kleena?
Solche Kassandra-Rufe stieß in den späten 80er Jahren etwa der damalige Chefredakteur der Jungen Welt aus, nehmen Sie den Film »Die Reue«, natürlich mit anderen Vorzeichen, aber nicht minder ideologisiert. Wie in unseren schlechtesten Zeiten wird hier Kunst zur Staatsaktion gemacht. Und nach gesellschaftlicher Verantwortung gefragt. Was natürlich eine Umschreibung für Unterlassung ist und eine Aufforderung darstellt, diese zu praktizieren.
- Einspruch, jede Kunst, selbst die banalste, ist politisch, also auch Ideologie.
Richtig. Aber wir reden hier nicht über ein Gesetz, eine Verordnung, ein Kommunique, sondern über einen Film, der selbstverständlich eine Botschaft hat, die - was ich kritisch anmerke - dem Kunstwerk jedoch wie ein Mühlstein am Halse hängt. Man spürt die Absicht und ist verstimmt. Darüber muß man reden ...
- ... und über die handwerklichen Fehler. Was ist denn nachweislich falsch?
Vieles. Da gibt es technische Irrtümer, die auf Unwissen gründen, und reichlich inhaltliche »Fehler«, die ganz gewiß mit Absicht begangen wurden. Wenn etwa Mitarbeiter des MfS mit Bart durchs Bild laufen, ist das Unsinn. Die gab es nicht. Rasieren war Vorschrift. Oder daß angeblich 40 Stunden am Stück verhört wurde. Jede Vernehmung ist protokolliert und kann eingesehen werden. In der DDR hatten wir den Achtstundentag -der galt auch im MfS. Auch Stuß also. Und unsere Paspelierung an Kragen und Schulterstücken war bordeauxrot und nicht weiß, wie sie Wiesler trägt. Weiß war die Waffenfarbe der NVA-Mot.-Schützen.
Oder daß einem inoffiziellen Mitarbeiter erklärt wird: »Sie sind jetzt IM!« Das war ein ausschließlich MfS-intem verwandtes Kürzel und wurde erst nach 1990 öffentlich bekannt und entsprechend ideologisch aufgeladen. In jener Szene, in der der karrieregeile Oberstleutnant Grubitz der soeben geworbenen Schauspielerin die Pillen in die Tasche steckt, wegen der sie verhaftet worden war, sagt er ihr, was er von einem IM erwartet und daß dies »Privilegien« bedeutet. Auch das ist haltloser Blödsinn. Es ist belegt, daß mehr als 90 Prozent der IM wegen ihrer politischen Überzeugung mit uns zusammenarbeiteten - das taten sie aus Idealismus. Privilegien gab es da keine. Es scheint inzwischen unvorstellbar, daß es Menschen gab, die sich freiwillig für den Sozialismus engagierten. Heute meint man, alle handelten zwanghaft, wurden genötigt und erpreßt oder waren scharf auf Posten und Privilegien. Die DDR: 17 Millionen verkrüppelte Seelen minus Stasi-Spitzel und -täter.
- Daran sieht man doch, daß »Fehler« dieser Art im Film keine handwerklichen Schnitzer, sondern böswillige Absicht und bewußt inszeniert sind. Etwa wenn ein Rollkommando des MfS in Gestapo-Manier Dreymanns Wohnung durchsucht und das Sofa aufschlitzt oder der aufgeschreckten Nachbarin im Vorübertrampeln zugerufen wird, wenn sie nicht die Klappe hielte, verlöre ihr Sohn den Studienplatz.
Solche böswilligen Stereotype finden sich reichlich, ja. Um mich nicht mißzuverstehen: Kunst lebt von der Zuspitzung, von der Überzeichnung, von der Darstellung menschlicher Konflikte in Extremsituationen, von der subjektiven Brechung und Interpretation der Wirklichkeit. Wir reden hier nicht über einen Dokumentarfilm. Aber Kunst, zumal kollektiv und mit viel Geld hervorgebrachte, entsteht selten bis nie um ihrer Selbst willen. Sie ist zweckgesetzt und zielgerichtet. Der oder die »Hersteller« verfolgen eine Absicht. Die Botschaft solcher Szenen, Gesten und Dialoge, Sie sagten es schon, liegt klar auf der Hand.
- Nämlich?
Margot Honecker hat dem Schriftsteller angeblich Solschenyzins »Archipel Gulag« geschenkt. Völlig absurd. Was das heißen soll, muß ich niemandem erklären. Oder: Ein Mitarbeiter wird, weil er in der Kantine einen politischen Witz erzählt, strafversetzt in die Abteilung M, um Briefe »aufzudampfen«. Wenn dies so gewesen wäre, hätte das ganze MfS dort gearbeitet.
Dreymanns Wohnung wird komplett »verwanzt«. Offen gestanden: Auch auf diesem Felde herrschte in der DDR Mangel. Der Einsatz von Technik zur Raumüberwachung fand allein schon wegen des technischen und personellen Aufwandes nur in Ausnahmefällen und fast immer nur für eine kurze Zeit statt. Die Mikrofone wurden auch anderswo benötigt. Man darf nicht vergessen: Es handelte sich überwiegend um Westimporte.
Besonders albern, das war schon erwähnt, ist der dargestellte Einsatz von Prostituierten im Ministerium. Die Sexualmoral im MfS war spießig. Wer fremd ging und es wurde bekannt, erhielt ein hochnotpeinliches Parteiverfahren. Wer sich auf intime Beziehungen mit einem IM einließ, wurde in aller Regel sogar aus dem MfS entfernt.
In solchen Sequenzen wird das künstlerische Abbild zur politischen Aussage verdichtet, und das mitunter auf höchsten Niveau Dank der hervorragenden Schauspieler. Darin jedoch besteht die Perfidie des Films.
- Nicht nur des Films. In seinem Umfeld findet medial wirksame Vermarktung statt. Selbst die sozialistische Tageszeitung zitierte am letzten Samstag im »Zettel-Kasten« den Hauptdarsteller Ulrich Mühe mit Sätzen, die dieser dem Spiegel gesagt hatte. So heißt es dort: »Als ich meine Stasi-Akte einsah, stellte ich fest, daß geplant war, mich im Falle bürgerkriegsähnlicher Zustände in ein Internierungslager zu stecken. Mit so etwas hätte ich niemals gerechnet.« Statt sich und sein Blatt schamhaft zu kasteien, hätte der reuige ND-Redakteur mit dem verschütteten Wissen sich und sein Publikum daran erinnern sollen, daß das Bonner Parlament - auch damals regierte eine Große Koalition - am 30. Mai 1968 eine Notstandsverfassung für die BRD beschloß. Zu den dort genannten »Maßnahmen zur Abwehr innerer und äußerer Notlagen« gehören massive Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten. Die Notstandsgesetze sind unverändert gültig (siehe Marginalie). Und daß Oppositionelle wie Oskar Lafontaine heute völlig legal vom Verfassungsschutz bespitzelt werden, reicht allenfalls für eine kleine Nachricht auch in der sozialistischen Tageszeitung. Mithin: Bei der kollektiven Entrüstung über das MfS sind viel Opportunismus, Dummheit und Heuchelei im Spiel.
Und Kalkül! Die inszenierte Empörung, die uns seit 1990 begleitet und derzeit einen neuen Höhepunkt erlebt -Stichwort Hohenschönhausen und die Debatte um den Linkspartei.PDS-Senator Flierl -, setzt nicht nur auf Unwissen. Sie selbst ist Teil der Verdummungsstrategie, die von den Herrschenden hierzulande realisiert wird. Dafür finden sie inzwischen in allen politischen Lagern willige Vollstrecker. Widerspruch von uns, den ebenfalls Beteiligten, wird als »Revisionismus« und »Geschichtsleugnung« verurteilt und als unzulässig zurückgewiesen. Nur eine Sicht ist erlaubt - die der vermeintlichen »Opfer«. Das kennen wir. Eine angemaßte Deutungshoheit mündet zwangsläufig in Entmündigung eines Teils der Gesellschaft. Ich weiß, wovon ich rede. Und wenn Menschen sich von der Politik und den Medien nicht diktieren lassen wollen, was sie zu denken, zu schreiben und zu reden haben und selbstbewußt auftreten, schreit man nach dem Verfassungsschutz, wie einst unsere Führung nach der Staatssicherheit rief. Mir scheint, daß wir vom Ideal des selbstbestimmten, mündigen Staatsbürgers derzeit weiter entfernt sind als wir es in der DDR jemals waren. Biermann hatte ausnahmsweise einmal recht, als er nach seinem unfreiwilligen Wechsel von der DDR in die BRD in den 70er Jahren sang: »Ach, kommen bin ich vom Regen in die Jauche.«
Bei Lafontaine, um beim Beispiel zu bleiben, läuft das gleiche Observierungsprogramm wie bei der Filmfigur Dreymann. Dank des wissenschaftlich-technischen Fortschritts lediglich unaufwendiger. Dem muß man nicht die Wohnung verwanzen: Raumton hat man übers Telefon und mit dem Handy das Mikro am Mann, zudem ist er damit jederzeit zu orten. Jeder Personenkontakt wird registriert, sein Post- und E-Mailverkehr kontrolliert. Und Sie können sicher sein: Auch unser Interview lag bereits auf verschiedenen Schreibtischen, ehe es gedruckt wurde, denn schließlich beförderten wir den Text zwischen uns und der Redaktion elektronisch.
- Noch einmal zurück zum Film. Bei Suhrkamp erschien zwei Monate vor der Premiere das Buch. Dort gibt es -wie im Kinofilm - das zufällige Zusammentreffen des Exkulturministers und des Schriftstellers Dreymann in einem Theater nach 1990. Im Buch sagt dieser Hempf auf eine entsprechende Frage des Schriftstellers: »Nein, das Kapitel Politik ist fürs erste abgeschlossen. Aber ich habe die Staffel an meinen Sohn weitergereicht. Der ist jetzt Abgeordneter der PDS.« Merkwürdig. Im Film fallen diese drei Sätze nicht.
Tja, über die Gründe der Streichung habe ich auch schon gerätselt. Das Gespräch führte Robert Allertz
»Ich sollte also fremde Post lesen. Zunächst dachte ich ganz naiv, es wären Briefe von Verdächtigen, die ins Visier des Staates gekommen waren. Weit gefehlt. Wir bekamen wahllos herausgegriffene Briefe von DDR-Bürgern, die an Adressen in der Bundesrepublik gingen.
Das lief unter dem Stichwort »Strategische Nachrichtengewinnung zur Gewährleistung der äußeren Sicherheit
der BRD<. Unter diesem Titel erhielten wir quartalsweise pauschale
G-10-Ermächtigungen von den zuständigen Richtern. Sie erlaubten uns, jeden fremden Brief zu lesen, der uns
in die Hände fiel. G-10 war ein Hinweis auf den Artikel 10 des Grundgesetzes, der das Postgeheimnis als
Grundrecht garantiert. Wir durften es auf der Basis der umstrittenen Notstandsgesetzgebung legal brechen.
(...)
Die
operative Postkontrolle, die bis heute als typische Praxis der Stasi gilt, gab
es - was bis heute kaum jemand
weiß - auch im Westen. (...) Beim Bundesnachrichtendienst kümmerten sich rund
250 Mitarbeiter der Unterabteilung l D Referat 2 (Beschaffung Sowjetblock,
Post- und Fernmeldekontrolle) um die >Fremden Briefe Ost«. Arbeit gab es
genug, weil allein aus der DDR jährlich mehr als 100 Millionen Briefe eintrafen.«
Aus: Nobert Juretzko: Bedingt dienstbereit. Im Herzen des BND - die Abrechnung eines Aussteigers. Ullstein Verlag, Berlin 2004.
Juretzko war Berufsoffizier und bis 1999 beim BND tätig.