Rainer
Paris
Ohnmacht
als Pression
Über Opferrhetorik
„…Wenn
Deutsche leiden, sind sie grundsätzlich Opfer. Sie verwandeln Klage in
Anklage und machen kognitiv kurzen Prozeß. Nicht Ursachen,
sondern Verursacher müssen dingfest gemacht werden, ohne handliche Schuldige hängt der Groll in der Luft. Die
Allgegenwart des Verdachts mündet in eine Rhetorik des Prangers, die allen
Beteiligten Zugzwänge zudiktiert, denen sie fortan kaum entrinnen können…
... Die Technik ist
denkbar einfach: Man übersetzt das
Ausstellen des Leids in unmittelbare Anklage und entwirft sich auf diese Weise
indirekt als unbeugsamer Wächter der Norm, die
der andere verletzt. Damit ist der Thron der Moralität immer schon besetzt. Extremer Partikularismus kann
sich so als eine Art Hyperuniversalismus entwerfen und jeden Versuch der Delegitimierung durch flammende Wertappelle zurückweisen. Man muß die Dinge nur
immer schon so einrichten, daß jede denkbare Entwicklung und Reaktion als
Bestätigung der eigenen Realitätskonstruktion dargestellt werden kann. Egal was der
andere sagt und tut, nichts wird mich darin hindern, am Bild der
Verwerflichkeit weiterzumalen. Wenn ich jemandem unterstelle, er sei böse, hat er grundsätzlich
zwei Möglichkeiten: Verhält
er sich mir gegenüber brüsk und abweisend, so bestätigt er mein negatives Fremdbild; ist er hingegen
freundlich und zuvorkommend, so tarnt er sich nur, denn er ist ja in Wirklichkeit
böse. Also muß ich ihn weiterhin als Bösen behandeln - bis er irgendwann wirklich böse wird und ich mich zufrieden zurücklehnen kann…“
Das Zitat ist einem 6 Seiten umfassenden Artikel zu diesem Thema in der monatlich erscheinenden liberalen Kulturzeitschrift „Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“, Nr. 665/666, Ausgabe September/Oktober 2004 entnommen.