Leseprobe
Weltmacht
mit allen Mitteln
Von Klaus Eichner
Feindbild
USA. Berechtigt oder falsch?
Der Widerstand gegen die USA und deren aggressive Politik
zur Gestaltung einer neuen Weltordnung wird als überkommenes Relikt des Kalten
Krieges diffamiert. Es sei eine Fortschreibung des alten Feinbildes, das sich
doch mit dem Ende der Blockkonfrontation erledigt habe, heißt
es. Die militärische Intervention Russlands in der Ukraine muss als
Argument herhalten, dass nicht die USA die Welt unter ihre Militärstiefel
zwingen wollen, sondern der Aggressor Russland heiße. Der „verbrecherische
Überfall“ – so die genormte Formulierung – habe bewiesen, dass die Furcht vor
Russland bei seinen Nachbarn begründet war und ist. Deshalb hätten sie sich
schließlich nach 1990 unter die schützenden Fittiche der NATO begeben. Nun ist
es ein gern kolportierter und zweckdienlich verbreiteter Irrtum zu glauben,
dass „Feindbilder“ eine Erfindung der kommunistischen Ideologie zur
Charakterisierung des Klassenfeindes seien. Seit es Armeen gibt, existieren
Feindbilder zur Motivation der Soldaten. Und zwar unabhängig vom Charakter der
Gesellschaft. Die Ideologie, auf der der Staat fußt, bestimmt allerdings das
Bild des „Feindes“. Und der ist immer konkret, keineswegs abstrakt, wie lange
und noch immer im Westen behauptet. Ewiger Krieg? Die Feinde in der imperialistischen
Ideologie sind zwangsläufig jene Kräfte, Bewegungen und Staaten, die die
Ausbeutergesellschaft überwinden und eine alternative Gesellschaft errichten
wollen. Und die Auseinandersetzung mit ihnen erfolgt politisch, juristisch, wirtschaftlich,
polizeilich, geheimdienstlich und militärisch. Ganz unmittelbar im Sinne des
von Carl von Clausewitz 1832 formulierten Gedankens: „Der Krieg ist eine bloße
Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Oder eben in Form des
Wettrüstens, mit dem Ressourcen der Volkswirtschaft des Feindes entzogen werden
und verhindern, dass dieser etwa soziale Probleme oder humanitäre Aufgaben
löst. Der konservative Historiker Michael Stürmer, eine Zeitlang
außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und namhafter Vertreter
jener Kreise, die für ein stärkeres militärisches Engagement der Bundesrepublik
stehen, interpretierte 2015 diesen Satz des Preußengenerals, den man laut
Stürmer dreimal lesen müsse: „Einmal als Feststellung, dass es Krieg gab und
gibt und leider Gottes keine Aussicht besteht, dass es anders wird. Zum zweiten
als Warnung vor dem absoluten Krieg, der jeden anderen Zweck verschlingt. Und
drittens als Aufforderung an die Diplomatie, das Ziel des Friedens auch im
Krieg zu verfolgen.“ Es war und ist nicht nur ein Interpretations-, sondern ein
grundsätzlicher Denkfehler zu meinen, dass es Kriege immer gab und immer wieder
geben wird. Der Irrtum wurzelt in der Überzeugung, dass die Ursachen von
Kriegen der unreife, unvollkommene Mensch sei und nicht das Wirtschaftssystem,
das Staaten hervorbringt und deren Politik bestimmt. Krieg, so darum der
Umkehrschluss, kann nur überwunden werden, wenn die kapitalistische Ausbeuter-
und Klassengesellschaft überwunden wird. Denn wie der 1914 ermordete französische
Sozialist Jean Jaurès formulierte: „Der Kapitalismus
trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Und ihm ist beizupflichten,
wenn er daraus schloss, dass – entgegen allen patriotischen und demagogischen
Behauptungen – nicht der Krieg revolutionär sei, sondern der Friede. Weil er
nämlich durch die Überwindung des Kapitalismus erzwungen und gewonnen werde.
Jahrzehntelanges
Zerstörungswerk
Das Feindbild von den USA – das mächtigste Land des
Imperialismus, beschönigend als Mutterland des Kapitalismus bezeichnet – ist
keine Erfindung von Politikwissenschaftlern oder Ideologen. Die USA haben seit
ihrer Gründung im Jahr 1776 mehr als zweihundert Kriege geführt – ohne selbst
jemals angegriffen worden zu sein. (Der „Krieg gegen den Terror“, den Präsident
George Bush jr. 2001 ausrief, wurde mit dem Anschlag auf das Welthandelszentrum
in New York begründet, der in der Propaganda zu einem „Angriff auf die USA“
gemacht wurde, aber keinen Angriff auf den Staat darstellte.) Es heißt, dass
seit 1946 in den Kriegen der USA, bei militärischen Interventionen und bei
Geheimdienstbeteiligungen an Terroranschlägen, Putsch- und Umsturzversuchen auf
den Territorien anderer Staaten fast sieben Millionen Menschen starben.
Gemessen an den beiden Weltkriegen, die von Deutschland ausgingen, ist das eher
wenig. Aber Leid, Not und Elend bemessen sich nicht nur an Kriegstoten. Flucht
und Vertreibung gehören auch dazu. Im Mai 2022 meldete das
UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dass die Zahl der Menschen, die vor Konflikten,
Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung auf der Flucht seien, die 100
Millionen überschritten habe. Auf der anderen Seite: Rüstungskonzerne sowie die
Finanz- und Investmentindustrie verdienen mit Kriegen und militärischen
Konflikten Milliarden. Und sie verdienen zweimal: einmal durch die Produktion
von Waffen und Rüstungsgütern, dann durch den Wiederaufbau der mit diesen
Waffen zerstörten Städte und Produktionsanlagen. Die meisten dieser global
operierenden Unternehmen haben ihren Sitz in den USA.
Konzept
zum Dominanzerhalt
George Bushs Verteidigungsminister Richard „Dick“ Cheney
ließ von September 1991 bis Mai 1992 eine Arbeitsgruppe Leitlinien erarbeiten,
wie die militärische Dominanz der USA erhalten und ausgebaut werden kann. „Jede
in Frage kommende feindliche Macht (ist) daran zu hindern, in einer Region
dominant zu werden, die für unsere Interessen von ausschlaggebender Bedeutung
ist“, hieß es darin. „Potenzielle Rivalen (sollen) erst gar nicht auf die Idee
kommen, regional oder global eine größere Rolle spielen zu wollen.“ Und mit
Blick auf die Bundesgenossen in der NATO, die mehrheitlich in Europa disloziert
waren und sind, wurde an die US-Administration appelliert: „Wir müssen darauf
achten, dass es keine auf Europa zentrierten Sicherheitsvereinbarungen gibt,
welche die NATO untergraben könnten.“³ Die einschüchternde Ansage war unmissverständlich:
Eine Verständigung Westeuropas mit dem Osten, insbesondere mit dem Nachfolgestaat
der Sowjetunion, sollte unterbleiben. Damit wurde den seit Jahrzehnten von
Moskau verfolgten Intentionen, in Europa eine Sicherheitsstruktur zu
entwickeln, eine deutliche Absage erteilt. Ein System kollektiver Sicherheit,
zu dessen Entwicklung in den siebziger Jahren erste Schritte unternommen worden
waren, hatte sich erledigt, eine Emanzipation (West-)Europas von den USA sollte
nicht stattfinden. Die Warnung vor der „Untergrabung „In der internationalen
Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen
von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht
erzählt“ (Egon Bahr, SPD, vor Gymnasiasten: Zitat nach „Egon Bahr und Lutz
Riemann: Annäherung durch Wandel. Kalter Krieg und späte Freundschaft.“ Edition
Ost, Berlin 2022) war eine Warnung vor dem Verlust der Dominanz ihrer
Führungsmacht, den USA. Das Wort von der „Rapallo-Angst“
machte – wieder einmal – die Runde. Zur Erinnerung: Im italienischen Rapallo hatten im April 1922 das Deutsche Reich und die Russische
Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (die UdSSR sollte erst später
gegründet werden) vertraglich beschlossen, ihre bilateralen Beziehungen zu
normalisieren. Die souverän am Rande einer internationalen Finanz- und
Wirtschaftskonferenz in Genua geschlossene Vereinbarung führte, trotz Ablehnung
durch die Westmächte und auch in Deutschland – darunter Reichspräsident
Friedrich Ebert (SPD) und weite Teile der SPD-Führung, zu prosperierenden
Wirtschaftsbeziehungen, von denen beide Seiten profitierten. Deutschland
lieferte Industrieanlagen und Know-how, half bei der Erschließung der Erdölfelder
bei Baku und vermarktete sowjetisches Öl in Deutschland, wodurch die
Abhängigkeit von britischen und US-amerikanischen Ölkonzernen reduziert werden
konnte.
Vorauseilender
Gehorsam
Die Federführung bei der Fixierung des Defense Planning Guidance 1991/92 lag bei
Colin Powell – damals Chef der Vereinigten Generalstabs – und Paul Wolfowitz, Staatssekretär im Pentagon. Es gibt Autoren, die
nach Bekanntwerden dieses internen Dokuments monierten, dass die „fundamentalen
Verschiebungen auf der weltpolitischen Landkarte“ unbeachtet geblieben seien,
dass es sich bei dem Papier um einen Rückfall in den Kalten Krieg handele, weil
Washington – wie seit Jahrzehnten – Sicherheit in erster Linie mit
militärischen Mitteln und gegen andere (nicht mit anderen) herstellen wolle. In
Japan und in der BRD erregte man sich in bestimmten Kreisen zudem darüber, dass
beide Staaten darin als „Konkurrenten“ genannt und damit auf eine Stufe mit
Russland und China gestellt worden waren. Es war, wie immer bei solchen
Kontroversen, ein Sturm im Wasserglas. Die von Kanzler Helmut Kohl geführte
Bundesregierung (CDU/CSU/FDP) versicherte wie gewohnt unterwürfig und im
vorauseilenden Gehorsam, dass das vereinte Deutschland keinen Sonderweg
beschreiten und unverändert fest an der Seite der USA stehen werde. Solche von
wenig Souveränität getragenen Erklärungen stellten eine diplomatische
Gratwanderung dar. Zwar bereiteten sich die Truppen der Nachfolgestaaten der
Sowjetunion (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten – GUS) auf ihren für 1994
geplanten Abzug vor – aber große Teile davon standen noch auf dem Territorium
der sogenannten neuen Bundesländer. Ihr finaler Rückzug durfte nicht durch
überschwängliche Treuebekundungen an die Adresse der USA gefährdet werden,
genauso wie überzogene Kritik an der „Schutzmacht“ USA Washington eventuell
verstimmen konnte. Der diplomatische Balanceakt der Bundesregierung ist
allerdings nicht unser Thema, sondern inwieweit die zu Beginn der neunziger
Jahre formulierten Leitlinien den Kalten Krieg ungebrochen fortsetzten bzw.
eine neue Qualität in den Außenbeziehungen der USA bedeuteten.
Politik
der Stärke
In der Führung der USA herrschte die Auffassung vor, dass man
die Politik der Stärke in der Stunde ihres größten Triumphs nicht aufgeben
sollte. Im Gegenteil. „Ich habe den Eindruck, dass die sowjetische Gefahr
möglicherweise größer ist als früher, da sie vielgestaltiger geworden ist“,
erklärte US-Präsident Bush, der Exgeheimdienstchef. Es sei nicht an der Zeit,
die Sowjetunion in die Gemeinschaft der „zivilisierten Nationen“ aufzunehmen.
Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) war von Anfang
an als hinderlich bei der Durchsetzung von US-Interessen und als Sieg
sowjetischer Außenpolitik gewertet worden. Deshalb musste ihre Schlussakte
liquidiert werden. „Die KSZE ist die eigentliche Gefahr für die NATO“, erklärte
US-Außenminister James Baker intern, womit er nicht unrecht hatte. Es war eine
europäische Sicherheitsstruktur. Zwar waren die USA daran beteiligt, sie waren
aber nur ein Staat von insgesamt 35. Und in der 1975 unterzeichneten
Schlussakte waren die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und aller
Unterzeichner in gleicher Weise berücksichtigt worden. „Die Teilnehmerstaaten
werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle
ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten,
einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche
Gleichheit, auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische
Unabhängigkeit. Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates
achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System
frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und
Verordnungen zu bestimmen“, hatte es gleich eingangs in der Schlussakte
geheißen. „Sie sind der Auffassung, dass ihre Grenzen, in Übereinstimmung mit
dem Völkerrecht, durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert
werden können. Sie haben ebenfalls das Recht, internationalen Organisationen
anzugehören oder nicht anzugehören, Vertragspartei bilateraler oder
multilateraler Verträge zu sein oder nicht zu sein, einschließlich des Rechtes,
Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein; desgleichen haben
sie das Recht auf Neutralität.“ Die USA beriefen sich gern auf diese
Festlegung, wenn sich eine „Vertragspartei“ etwa mit dem Westen verbünden
wollte. Doch wenn sich ein Staat verweigerte, wenn er sich nicht der NATO und
darum deren Führungsmacht anzuschließen wünschte, nahmen die USA das nicht
einfach so hin und halfen bei der „Meinungsbildung“ mit verschiedenen Mitteln
nach. Insofern lag der US-Außenminister nicht falsch, wenn er 1989/90 meinte,
dass aus Sicht der USA die KSZE „die eigentliche Gefahr für die NATO“ sei.
„America first“
Auf KSZE-Linie bewegten sich Überlegungen, die in Europa
nach dem Ende der Blockkonfrontation angestellt wurden. Jetzt sei die Chance
für den Abbau aller ideologisch motivierten Barrieren, für die Abrüstung
konventioneller Streitkräfte, für die Abschaffung der beiden Militärpakte.
Diese Kreise nahmen Bushs Ansage wörtlich: „Wir können einen dauerhaften
Frieden verwirklichen und die Ost-West-Beziehung in eine dauerhafte
Zusammenarbeit umwandeln.“ Sie hatten einerseits überhört, dass der US-Präsident
in der Möglichkeitsform gesprochen hatte, und andererseits an die Lauterkeit
der Politik der USA geglaubt. Die besaß Washington aber nie. Im Zentrum der
Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika standen immer die nationalen
Interessen, es ging immer um „America first“. Nationale Belange anderer Staaten fanden allenfalls
Beachtung, wenn sie US-amerikanischen Interessen nützten oder ihnen im Wege
standen. Ein Neustart der Außenbeziehungen, von dem nicht wenige inner- und vor
allem außerhalb der USA 1989/91 geträumt hatten, erfolgte nicht. Man hätte mit
dem Wesen der kapitalistischen Ordnung brechen müssen. Dazu waren die in den
USA herrschenden Kreise nicht bereit.Der 99jährige Henry
Kissinger, Exaußenminister, Friedensnobelpreisträger und Organisator des
Staatsstreiches in Chile, mit dem 1973 die demokratisch gewählte Regierung der Unidad Popular weggeputscht
worden war, machte 2022 in einem Buch gewohnt zynisch die Kontinuität und den
Charakter der Außenpolitik kapitalistischer Staaten, insonderheit des eigenen
Landes, ex negativo deutlich. „Wem es hauptsächlich
um Werte geht, sollte nicht den diplomatischen Dienst, sondern das Priesteramt
anstreben.“ Der 2015 verstorbene Bahr, nach eigenem Bekunden einst selbst ein
Kalter Krieger, berief sich bei der Frage nach seiner aktuellen politischen
Verortung auf seinen Freund Willy Brandt. Der habe gesagt, je älter er werde,
desto linker werde er. „Mir geht es nicht anders.“ Sein Urteil über die USA hatte
eventuell nichts mit dieser linken Haltung zu tun, sondern war einfach nur
logisch und vernünftig. „Das nationale Interesse der USA ist von der
moralischen Gewissheit durchdrungen, das auserwählte Volk Gottes zu sein.
Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein sind unlöslich verschmolzen“,
konstatierte er 2015. Und fast schon resignativ fügte er an, dass es „sinnlos“
sei, dies zu kritisieren. „Die amerikanische Position stellt einen moralischen
Maßstab dar, der nicht verhandelbar ist. Das entspricht auch der amerikanischen
Haltung, sich nicht durch fremde Ordnungen binden zu lassen. Das hat mit Macht
und weniger mit Werten zu tun. Die Globalmacht USA wird sich nur binden, wo ihr
Interesse das rät. Sie wird insgesamt ihre Politik der freien Hand verfolgen,
um ihren Einfluss zu vergrößern.“ Das war eine sehr diplomatische, sehr höfliche
Umschreibung für die Durchsetzung einer neuen Weltordnung, die sich die USA in
ihre internen Strategiepapiere und auf ihre Fahne geschrieben hatten.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Klaus Eichner: „Bis alles in Scherben fällt. Der Kampf der
USA um eine neue Weltordnung“ Verlag Edition Ost, Berlin 2022, 130 Seiten, 16
Euro