Alles perdu
oder aufgekündigt
Klaus Eichner über den Kampf der USA um eine neue
Weltordnung
· Von Jutta Grieser
Faust geballt – eine fatale Strategie in der
internationalen Politik
Das Cover springt ins Auge und ist ein »Eyecatcher«,
wie es auf Neudeutsch heißt: Eine Abrissbirne schwingt über Titelblatt und
Titelzeile. Und da dieses Abbruchwerkzeug Stars and Stripes trägt, ist alles
gesagt. Seit den 90er Jahren wird zerstört und niedergerissen, was die
Diplomatie im Kalten Krieg mühsam, aber erfolgreich aufgebaut hatte.
Internationale Abkommen und Sicherheitssysteme, Organisationen und
Beziehungsgeflechte: perdu oder aufgekündigt. Die
übrig gebliebene Supermacht – bis dahin von der anderen in jene Schranken
gewiesen, die mit der Sowjetunion verschwanden – begann die Welt nach ihrem
Gusto umzugestalten.
Diese Ambitionen der USA überraschten Klaus Eichner
nicht. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatte der seinerzeitige US-Präsident
Woodrow Wilson 14 Prinzipien formuliert. Darin plädierte er »für die
Ausbreitung des Kapitalismus (um den bis dato vorherrschenden amerikanischen
Isolationismus zu überwinden) und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker –
aber reklamierte zugleich für die USA das Recht, Demokratien in fremden
Nationen zu ›lenken‹ oder zu ›formen‹«, so Eichner. Wilsons »Forderung nach
freier Schifffahrt auf allen Meeren, die Betonung der offenen Diplomatie, die
Ablehnung von Geheimverträgen und die Schaffung kollektiver Sicherheit waren
letztlich nur die liberale Umhüllung für die Durchsetzung amerikanischer
Interessen«. Im Kern, so meint Eichner weiter, war das die Geburtsurkunde von »America First«. Und obgleich Wilsons Programm von 1918 vom
US-Senat nie angenommen worden war, handeln ausnahmslos alle US-Präsidenten und
US-Administrationen bis heute danach.
Ganz im Wilson’schen Geiste
wurden militärische Interventionen auch moralisch begründet: Die USA seien
aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Potenz der einzige Garant der
internationalen Ordnung, weshalb sie auch über dieser Ordnung stehen und sie
folglich auch diktieren müssen, statt sich ihr zu unterwerfen. Die westlichen
universellen Werte wie Demokratie, Freiheit, freie Marktwirtschaft und
Menschenrechte würden von keinem Staat so gelebt werden wie von den USA. Das
legitimiere »einen ›hegemonialen Internationalismus‹ – die USA führen die
internationale Ordnung und sind zugleich strategisch unabhängig: Sie greifen
dort aktiv ein, wo allein sie es für nötig erachten«, schreibt
Eichner. Und er belegt auf wenigen, aber gehaltvollen Seiten sehr konzentriert
mit Beispielen, wie anmaßend und gefährlich diese Weltsicht ist. Denn sie führt
zu Konflikten, Krisen und Kriegen. Eichner listet diese auf.
Der Kampf der USA um eine neue, von
ihr bestimmte Weltordnung wird entgegen der täglichen Propaganda nicht
um »Freedom and Democracy«, um Menschenrechte und Beglückung aller Erdenbürger
geführt, sondern ausschließlich um Ressourcen und Märkte. Er speist sich aus
der Angst vor dem Verzicht. Die USA wollen sich nicht ein- und beschränken
müssen. Es soll alles so weiterlaufen wie gewohnt und nach Möglichkeit noch
besser. So simpel ist diese »wertebasierte« Politik.
»Vorstellungen von einer multipolaren Welt, von
gleichberechtigten Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern, von einem
friedlichen Wettbewerb hatten und haben in dieser Politik keinen Platz. Es geht
allein um die Durchsetzung nationaler Interessen«, so Eichner. Politiker aus
den USA reisen zum Beispiel nicht nach Taiwan, um Taipeh moralisch den Rücken
gegen Peking zu stärken. Man will die dort ansässige Chip-Produktion ins eigene
Land holen, um damit den wichtigsten Konkurrenten, die Volksrepublik China,
ökonomisch zu treffen: Schließlich gehen 60 Prozent der vom wichtigsten
Halbleiterproduzenten der Welt hergestellten Microchips aufs chinesische
Festland. Und: In den letzten 30 Jahren hat Taiwan »193 Milliarden
US-Dollar auf dem Festland investiert, deutlich mehr als Deutschland, das fast
mehr als dreimal so viele Einwohner zählt«, bemerkte die »Neue Zürcher Zeitung«
am 9. August 2022. Nachdem also Russland mit Sanktionen und Ukraine-Krieg
als Konkurrent so gut wie ausgeschaltet ist, konzentrieren sich die USA auf die
Konfrontation mit der Nummer 2 in der Welt. Und ihre Vasallen machen
treudoof mit, reisen ebenfalls nach Taiwan und ketten sich objektiv noch fester
an ihre vermeintliche Führungsmacht …
Klaus Eichner kennt die Materie, über die er urteilt.
Er war länger als anderthalb Jahrzehnte, bis zum Ende der DDR, Chefanalytiker
für US-Geheimdienste in der Hauptverwaltung Aufklärung der Staatssicherheit.
Auch danach hat er dieses Thema weiter verfolgt, wovon
nicht wenige sachkundige Publikationen zeugen. Etwa ein Buch über die
Nachrichtendienste der USA, nachdem Edward Snowden, Julian Assange und andere
Whistleblower offenbart hatten, dass selbst die Regierungschefs verbündeter
Staaten von den USA systematisch bespitzelt werden. An der Vorstellung seines
Buches »Imperium ohne Rätsel. Was bereits die DDR-Aufklärung über die NSA
wusste« in der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin nahm auch der
Grünen-Politiker Christian Ströbele teil, der danach den Gedankenaustausch mit
Eichner suchte.
Manch rückwärtsgewandter Kommentator glaubt, Eichners
jüngste Arbeit mit dem Hinweis auf dessen Herkunft entwerten zu können. »Autor
und Verlag haben sich gesucht und gefunden (sie mussten aber sicher nicht lange
suchen): Der ehemalige Stasi-Mitarbeiter und der Verlag ›edition
ost‹ in der ›Eulenspiegel Verlagsgruppe‹ – sozusagen
die literarische Trauergemeinde am Grab der DDR«, hieß es in einer
»Kundenrezension« auf Amazon. Den Grund
der beabsichtigten Schmähung nannte der Sozial- und Politikwissenschaftler
Frank Lukaszewski von der Uni Duisburg auf www.rezensionen.ch, einer Schweizer Plattform: Der Inhalt des Buches gilt
in den »meinungsmonopolistischen Diskursen« als unpassend und der Autor – weil
einst beim MfS tätig – als »ganz böse«. »Zu seinen primären Aufgaben gehörte die analytische Aufklärung sowie Aufarbeitung der
Tätigkeiten der diversen US-Geheimdienste, die gerne unter dem Oberbegriff der
CIA gefasst werden. Noch böser!«
Also: Wenn zwei plus zwei vier ist, woran niemand
zweifelt, ist es dennoch falsch, wenn dies ein ehemaliger Mitarbeiter des MfS
konstatiert. Auf diesem Niveau bewegt sich die Auseinandersetzung mit der
Politik der USA inzwischen. Wer sich nicht bedingungslos zu den USA und deren
Politik bekennt, ist deren Feind und gehört an den Pranger der Atlantiker oder in die rechte Ecke. Zweifellos befinden
sich unter den Kritikern Washingtons auch viele Rechte, die wahrlich keine
Verbündeten in der zwingend nötigen Auseinandersetzung mit den USA sind.
Allerdings gilt auch hier das Prinzip: Zwei plus zwei bleibt trotzdem vier – selbst
wenn es die AfD sagt.
Klaus Eichners Buch ist eine sehr notwendige Analyse
der ideologischen Wurzeln der aggressiven US-Politik, die nicht nur die Welt an
den Rand des Abgrunds geführt hat. Sie zerreißt auch die Gesellschaft in den
USA. Den Menschen dort bleibt offenbar nur die Wahl zwischen Irrsinn und
Selbstüberschätzung. Für Eichner, den Marxisten und historischen Optimisten,
heißt das: Wir müssen einer »Pax Americana« entgegenwirken und uns aus den
selbstmörderischen Produktionsverhältnissen befreien. Der Systemwechsel ist
nötig, wenngleich derzeit anscheinend unmöglich. Er darf aber nicht in die
Zukunft verschoben werden. Wir können »nicht mehr auf die Enkel setzen, die es
besser ausfechten sollen. Denn wenn wir nicht jetzt und konsequent handeln, wird
es keine Enkel mehr geben! Nur noch Scherben.« So der letzte Absatz in Eichners
Buch. Und auch dies ist wahr – wie die anderen voranstehenden Feststellungen
auch. Obwohl der Autor einst Oberst der Staatssicherheit war. Vielleicht sogar
deshalb.
Klaus Eichner: Bis alles in Scherben fällt. Der Kampf
der USA um eine neue Weltordnung. Edition Ost, 130 S., br., 15 €.